Felix Ducharme ist tot. Er führte den Laden in der kleinen Ortschaft Notre-Dame. Für die Menschen des Ortes in der kanadischen Wildnis ist der Laden stets ein Lebensmittelpunkt gewesen, wo sie alles für den täglichen Bedarf bekamen. Doch was wird jetzt werden, wo Felix tot ist?
Seine Witwe Marie versucht nicht nur, den Tod ihres Mannes zu verarbeiten. Außerdem fühlt sie sich von allen Seiten unter Druck gesetzt. Jeder erwartet von ihr, dass sie dort weitermacht, wo Felix aufgehört hat. Das scheint das einzige Anliegen der Gemeinschaft zu sein. Hätte es Felix nicht gegeben, wäre Marie niemals auf die Idee gekommen, sich in Notre-Dame anzusiedeln. Warum sollte sie also jetzt noch bleiben?
Maries erste Bewährungsprobe erfolgt wegen eines Unfalls. Der kleine Jean-Baptiste bricht sich ein Bein. Eigentlich soll sie nur den Arzt anrufen. Dieser will jedoch nicht kommen. Marie muss Jean-Baptiste zum Arzt hinfahren. Ihr Engagement wird auf eine zusätzliche Probe gestellt, denn ihre Fähigkeiten als Autofahrerin sind sehr beschränkt. Meistens ist Felix mit dem Wagen gefahren. Auf der Ladefläche des Wagens muss Jean-Baptiste feststellen, dass Marie mit Schlaglöchern nicht sehr elegant umzugehen weiß.
Der Tod von Felix ist ein kleines Rädchen im Leben der Menschen in Notre-Dame. Schnell ist klar, dass das Leben weitergeht. Der neue Pfarrer muss sich einleben und eckt dabei schon einmal an. Wer hätte gedacht, dass sich auch mit dem Bau eines Schiffes Schäfchen sammeln lassen?
Gaetan ist ein Kind im Körper eines Erwachsenen. Bisher wusste niemand mit ihm etwas anzufangen. Gaetan lebte in den Tag hinein, bis er bei Marie eine Anstellung erhält.
Ist Marie zu gutmütig? Vielleicht, denn irgendwie vermag sie sich nie so recht durchzusetzen. Die Pelzjäger, die von ihr in die Stadt gefahren werden, strapazieren ihre Geduld auf das Äußerste, als sie sich stundenlang in einer Kneipe betrinken und sie draußen warten lassen.
Das Leben geht weiter in Notre-Dame. Mal langsam, mal zügig und immer sehr menschlich.
Das Nest zeigt eine wunderbar einfühlsame Seite in der Welt der Graphic Novels. Régis Loisel und Jean-Louis Tripp, zwei Comic-Veteranen, versetzen den Leser nach Kanada in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts. Wer Geschichten gewöhnt ist, die sich mit der heutigen Zeit beschäftigen oder wenigstens unsere kulturellen Errungenschaften als Grundlage haben, wird die Ruhe, die dieser vorzüglichen Erzählung innewohnt, umso stärker erfahren.
Ein Todesfall ist der Einstieg in die Welt des kleinen Ortes Notre-Dame, der nach außen so gut wie unberührt bleibt. Felix, der Tote, war ein Tor zur Welt, indem er die dringend benötigten Gegenstände von außen hereinbrachte. Der Postbote, geduldet, aber nicht unbedingt gelitten, der mit dem Postfahrzeug in den kleinen Ort einbricht, ist ein deutlicher Eindringling. Als Gaetan seinen Wagensitz berührt, ist seine Reaktion so rüde, dass er sich den offenen Unmut der anderen Ortsbewohner zuzieht.
Simonac! Mach das nie wieder, du Postschnecke!
Die Gemüter in Notre-Dame haben ein starkes Gefühlsleben. Man beobachtet die anderen – aber es ist nicht nur Neugier, man achtet auch aufeinander. In dem Wissen, voneinander abhängig zu sein, in einer Gemeinschaft, wo ein Rädchen in das andere greift, kochen die Emotionen zwar auch hoch, aber sie senken sich auch wieder auf ein verträgliches Maß herunter. Ein gutes Beispiel sind Real und sein bester Freund, die sich während eines Dorffestes prügeln.
Die Szene ist von Loisel und Tripp sehr gut aufgebaut. Sie kommt gänzlich ohne Text aus – sieht man von den Gesangstexten ab. Zuerst herrscht noch eine Atmosphäre voller guter Stimmung in der Festscheune. Plötzlich kippt das Geschehen in einen riesigen Tumult. Ein besseres Beispiel für eine Erzählung ohne Worte kann es kaum geben. Eine kurze Versöhnung der beiden Streithähne ist nur die Einleitung für einen schockierenden Epilog dieses Handlungsabschnitts.
Loisel und Tripp wissen sehr genau, wie sie ihre Leser berühren und erschüttern können.
Weniger tragisch, dafür mit viel mehr Humor erzählt, ist die Beziehung des neuen Pastors zum alten Schreiner Noel. Der alte Mann hat nichts für Religion und Pastoren übrig und macht das dem Neuen auch direkt unmissverständlich begreiflich. Über den Schiffsbau finden die ungleichen Männer zueinander und werden Freunde.
Dieser zentrale Kern, wie Menschen entgegen aller Unterschiedlichkeiten zueinander finden können, findet sich immer in die einzelnen Episoden eingewoben.
Das Nest zeigt eine Welt, wie sie einmal war, kurz bevor sehr große Umbrüche sie veränderten. In dieser kleinen Ortschaft, in der die Straßen eher an eine Westernstadt erinnern, leben die Menschen sehr intensiv. Es gibt ohne ein Höchstmaß ein Technik, wie wir es kennen, mehr zu tun. Jeder ist bereit, seine Fähigkeiten in den Dienst des anderen zu stellen. Die Ankunft eines Menschen, eine Heimkehr, ein Brief aus der fernen Stadt, ist noch ein Ereignis. Die Bindungen sind noch viel enger. Betrachtet man die Welle künstlich nachgestellten Lebensumständen, wenn z.B. Menschen in einem Segelschiff den Atlantik überqueren, bietet Das Nest auf seine Art ein gelungenes Zeitzeugnis, das auf gleicher Augenhöhe wie so mancher gute Roman gelesen werden kann.
Die Zeichnungen zeigen ein skurriles Völkchen – auf den ersten Blick jedenfalls. In Wahrheit finden Loisel und Tripp das zentrale Thema eines Gesichtes. Das mag sich seltsam anhören, trifft es aber. In den Gesichtern gibt es ein Stück Geschichte abzulesen. Diese Fähigkeit der beiden ist auch notwendig in den Szenen, in denen ohne Worte erzählt wird. Obwohl Szenen ohne Dialoge ablaufen, fehlt es ihnen nicht an Dramatik. Dank der lebendigen Farben von Francois Lapierre wird der Leser bereits nach wenigen Seiten von Notre-Dame eingefangen.
Eine stimmungsvolle Reise in der Zeit, eine gelungene Reportage und dramatische Erzählung, eine Soap und ein einfühlsamer Roman – Loisel und Tripp erzählen so, wie das Leben schreibt. Wer bisher Vorbehalte vor Comics hatte, wird durch das Nest eines Besseren belehrt. 🙂
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