Samstag, 14. Juli 2007
Das Ende naht. Die Menschen in den zerstörten Straßen verteidigen sich gegen die Monster aus der Hölle. Aber der Nachschub der furchtbaren Kreaturen scheint unerschöpflich zu sein.
Julien muss gemeinsam mit seiner Mutter an einer Barrikade beobachten, wie die Ungeheuer anrücken. Gewehrfeuer lichtet die Reihen der Dämonen, die wenigstens in dieser Welt ebenso verletzlich sind wie jedes andere Lebewesen auch. Die fremden Wesen, von denen niemand zu sagen vermag, woher sie stammen, sind nicht auf den Boden beschränkt. Auch aus der Luft greifen die Monster an. Aus Notre Dame schießt eine gigantische Flammensäule in den Himmel. Die Seine ergießt sich in eine unbekannte Tiefe. Paris, eine Wiege der modernen Zivilisation, ist nur noch ein einziges Schlachtfeld – die letzte Station vor dem Weltuntergang.
Auf ihrer Flucht erinnert sich Julien. Vor kurzem hat er Gott gesehen. Mutter und Sohn führen in ihrem Versteck ein verzweifeltes Gespräch. Wie konnte es dazu kommen? Warum lässt Gott all dies geschehen? Viel Zeit für einen philosophischen wie auch hilflosen Disput bleibt den beiden nicht. Die Dämonen haben ihre Spur aufgenommen und folgen ihnen durch das verlassene Gebäude. Plötzlich steht die Zeit still. Als habe Gott nur auf diesen Zeichen der Macht gewartet, erscheint der Schöpfer allen Seins.
Der Schöpfer ist ein großes Kind, genauer gesagt, drei Kinder. Er ist verspielt und weise. Und er überlässt die Verantwortung für die Zeitenwende – oder den Untergang – Julien. Der Junge sieht sich einer Aufgabe gegenüber, die nicht für einen Menschen geschaffen wurde – nun, vielleicht nicht für einen Erwachsenen, aber vielleicht für ein Kind.
Das verlorene Paradies zeigt mit seiner vierten Ausgabe, Erde betitelt, läutet die Endphase der dramatischen Ereignisse um das Ende der Welt und der Liebe eines Engels zu einer Dämonin ein.
Es ist überaus faszinierend, auf welch mythologische Pfade sich AnGe und Alberto Varanda sich hier begeben. Es ist eine Handlung, die sehr kompakt angelegt ist und die Vorstellungskraft reizt. Wer die Geschichte liest, kann auf ähnliche Empfindungen stoßen, die sich einstellen, wenn man darüber nachdenkt, wo das Universum aufhören könnte.
Die Vorstellungskraft spielt eine große Rolle in dieser phantastischen Welt, die hier vor den Augen der Leser ausgebreitet wird. Dank der szenischen Vorlage durch AnGe kann Philippe Xavier verschiedene Bilder der menschlichen Mythen ausprobieren. Es ist aufregend, wie Julien seine eigene Realität nur durch die Kraft seiner Gedanken verändert. Aus dem Abbild eines Flusses in die Unterwelt mit einem unheimlichen Fährmann, der die Toten übersetzt, wird ein Kreuzweg der Welten, der Juliens eigenen Vorstellungen eines Eingangs zur Hölle mehr entspricht – und es sieht auch weitaus gruseliger aus als ein schweigsamer Fährmann.
Eindrucksvoll schafft Xavier eine monströse Architektur, verschnörkelt wie nach außen gekehrte Muskulatur, knochig in seinen dämonischen Fratzen, überdimensional in seiner Ausführung. Im Zentrum dieser absurden und tödlichen Kreation muss der zu finden sein, der all die Horden anleitet, die nun eine Bresche in die himmlischen Heerscharen geschlagen haben: Satan.
Und wieder erfolgt eine Überraschung, denn der Herr der Fliegen hat eine Gestalt gewählt, die keineswegs hassenswert oder grausam erscheint. Immerhin ist Satan ein gefallener Engel und hat sich einen Teil seiner Schönheit bewahrt.
1937 in Nanking töteten die Japaner 300.000 Chinesen. Sie führten Experimente mit ihnen durch, folterten sie reihenweise. Sie schlitzten Schwangeren den Leib auf, holten die Babys heraus und aßen sie lebendig, vor den Augen ihrer schreienden Mütter.
Satan glaubt den Jungen erschüttern zu können, was ihm im ersten Ansatz auch gelingt. Doch der Junge wurde nicht zufällig von Gott ausgewählt. Julien hat ein gutes Herz, außerdem ist er sehr intelligent und erliegt den Einflüsterungen des Fürsten der Finsternis nicht. Aber der gefallene Engel kann den Jungen trotzdem aus der Fassung bringen. Dieser Umstand genügt, um das Chaos in Gang zu halten.
Schließlich gibt es nur noch die berühmte last line of defense. Gabriel, der Engel aus der zweiten Reihe, der ein hohes Maß Verantwortung an den Kämpfen trägt, hat sich inzwischen zu einem Heerführer aufgeschwungen, dem die übrigen Engel ohne zu fragen gehorchen. Im legendären ersten Turm des Himmelreiches begegnet Gabriel seinem Schicksal.
Oh, ich will leben. – Leben, ohne zu bluten.
Die Lösung ist so einfach wie komplex. Sie ist grafisch eindrucksvoll gelöst und von ihrer Handlung her sehr interpretierbar. Aus diesem Grund darf und kann auch nicht zu viel verraten werden, denn jeder Leser kann hier seine eigenen Gedanken zu den Geschehnissen einbringen.
AnGe und Philippe Xavier schließen einen mythischen Vierteiler ab, der von Folge zu Folge rätselhafter wie auch faszinierender wurde. Das verlorene Paradies gehört zu der Art Comics, die den Leser auch in die Pflicht nimmt und wie beiläufig eine unterhaltende Spannung aufbaut. Mitdenken ist hier gefragt, fällt aber auch leicht, weil es unaufdringlich vermittelt wird. Nach vielfältigen Szenarien rund um die Kluft zwischen Himmel und Hölle ist dies eine der besten Geschichten seit langem. 🙂
Donnerstag, 26. April 2007
Die Festen des Himmels schwanken. Trümmer fallen von hoch oben auf Engel und Verbindungsbrücken herab. Das Böse begegnet den Mächten des Guten. Heere von Engeln stellen sich dem gigantischen Biest.
Die Erschütterungen, die an den Grundfesten der Sphären rütteln, greifen auch auf die Erde über. Das ehemalige Paradies ist zu einem Trümmerhaufen verkommen. Erdbeben haben aus einer lebenswerten Welt einen apokalyptischen Platz gemacht. Die Arbeit der Rettungskräfte reicht nicht aus, um der vielen Verletzten Herr zu werden. Inmitten dieses Chaos taumelt der Engel Gabriel durch den Schutt und die Trümmer. Er kann das Grauen um sich herum kaum aushalten, noch richtig begreifen.
Das ist nicht schlimm. Das Wichtigste ist zu leben. Wenn auch nur eine Minute länger.
Die Worte einer Sterbenden reißen den Himmelsbewohner aus seiner Lethargie und zwingen ihn zum Nachdenken. Zu diesem Zeitpunkt sterben die Sphären unaufhörlich weiter. Jeder Turm, der im Himmel einstürzt, reißt mit seinen Trümmern ein Loch in die Hölle. Wer glaubte, Höllendämonen könnten nicht in Panik geraten, sieht sich angesichts des Schreckens unter den Höllenbewohnern gewaltig getäuscht.
Die Suche geht weiter. Nach der Flucht Gabriels haben sich der Engel, Anya und der Junge verloren. Getrennt voneinander irren sie umher. In einer Welt, die der Phanatasie eines M.C. Escher entsprungen sein könnte, läuft der Junge planlos umher. Als er auf Anya trifft, freut er sich keineswegs. Mittlerweile glaubt er daran, eine Aufgabe erfüllen zu müssen. Der Junge ist allerdings nicht mehr so hilflos, wie noch zu dem Zeitpunkt, als er von Gabriel gerettet wurde.
Gabriel hält es nicht mehr auf der Erde. Er will zurück in den Himmel. Woanders ist eine Klärung seiner Fragen nicht möglich. Das Chaos erleichtert seine Rückkehr nicht gerade. Die alten Wege scheinen versperrt oder nur schwierig passierbar zu sein. Die Abkürzungen werden bewacht. Gabriel lässt sich nicht aufhalten und kämpft sich durch. Die Wahrheit ist viel schlimmer, als er geahnt hat.
Der dritte Teil von Das verlorene Paradies zeigt dem Leser drei Welten am Rande des Abgrunds. Alles ist irgendwie führungslos geworden. Die Engel haben einen Plan, scheinen ihn jedoch äußerst kopflos zu verfolgen. Die Dämonen wollen ihren verhassten Feind vernichten, während die Menschen zum Spielball einer höheren Macht geworden sind, der sie nichts entgegenzusetzen haben.
Das Autorenduo Ange und der Zeichner Philippe Xavier skizzieren hier eine düstere Apokalypse riesigen Ausmaßes. Hoffnung ist hier kaum zu finden. Erst zum Schluss gestatten die Macher einen Funken Licht am Ende des Tunnels und lassen den Leser gleichzeitig mit einem Augenzwinkern bis zur nächsten abschließenden Folge zurück.
Geschichten um das Ende der Welt sind seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts in. Sie treten in den verschiedensten Formen auf. Wissenschaftlich, mittels absoluten Horrors oder auch religiös. Wie das Ende der Welt aussehen kann, haben uns die Offenbarung wie auch George A. Romero oder Stephen King erzählt. Eine wirklich klassische Herangehensweise wird uns von Ange vorgelegt. Der Himmel läutet hier das Ende ein. Himmel ist hier nicht gleichzusetzen mit einem Willen. Die Strukturen des Himmels sind hier ebenso verkrustet wie auch komplex. Gut bedeutet nicht gleichzeitig gut. Nicht jeder ordnet sich einem Befehl unter. Es gibt Widerspruch und sogar Rebellion. Die Engel wenden sich gegeneinander und Gott scheint ferner denn je zu sein. Wieder ruht die Hoffnung auf einem Kind, dessen Kräfte das Böse aufhalten sollen. Schließlich stellt sich heraus, dass Irren nicht nur menschlich, sondern auch himmlisch ist – nicht göttlich.
Im Zentrum der Ereignisse steht der Engel Gabriel (nicht zu verwechseln mit dem Erzengel gleichen Namens). Er ist tatsächlich zwischen den Welten hin und her gerissen. Aus dem Wesen, das einmal eine fest umrissene Aufgabe hatte und wusste, wo sein Platz im Leben war, ist ein Wanderer geworden, der entwurzelt und ziellos umher läuft. Gabriel ist eine einfache Figur. Er muss keinem Beruf nachgehen und keine Familie beschützen oder ernähren. Das Einzige, was Gabriel konnte, war zu kämpfen. Das ist ihm nun verwehrt. Auf der Erde hat er keine Flügel, sein Schwert ging verloren. Sein Antrieb ist verloren. Erst als er den Kampf wieder aufnehmen will, entwickelt er auch eine neue Durchsetzungskraft, die ihm hilft gegen Widerstände anzugehen – ob er auch gegen sie bestehen kann, ist eine ganz andere Frage.
Fast scheint es, als hätten Ange ihren Gabriel auf eine neue Aufgabe angesetzt, nämlich sich selber zu finden.
Eine ähnliche Aufgabe haben sie auch Anya zugedacht, die sich zwar nicht mit Schwertern erwehren muss, aber dafür einen inneren Kampf gegen sich selbst bestreitet.
Philippe Xavier hat mit seinem äußerst präzisen Strich eine sehr schwierige Aufgabe zu erfüllen. Als Zeichner muss er zwischen drei Welten hin und her springen. Monster wechseln einander mit himmlischen Engeln, himmlische Architektur löst das Chaos auf der Erde ab. Die Übergänge und die Gegensätzlichkeiten machen den optischen Reiz dieses Bandes aus.
Besonders gelungen ist der sterbende Himmel und auch das Biest, das Monster, das die himmlische Festung bestürmt. Wollte man die Bilder mit einem Wort benennen, könnte man sie als ästhetisch beschreiben. Es herrscht eine durchgängige klare Schönheit von Linien und Formen vor.
Ein fantastisches Abenteuer mit Hochglanzoptik in einer Apokalypse, die keine Sphäre verschont. Auch in der dritten Episode wird die Spannung hoch gehalten. Derartig kämpferisch hat man Engel selten gesehen.
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