Freitag, 01. September 2023
Die Wölfe kommen. LADY GRAVESTONE, ihr kleiner Sohn JOHN und ihr Diener TIBBETT sind auf der Flucht durch den tiefen Schnee. Es ist Nacht, der Sturm rauscht, die kleine Kirche neben dem Friedhof verspricht kein sicherer Unterschlupf zu sein. Das Wolfsrudel kommt näher, kreist sie ein, eine Tragödie bahnt sich. JOHN wird diese Nacht nie vergessen! Viele Jahre später treibt sich JOHN GRAVESTONE wieder nächtens herum. In der Ferne heult ein WERWOLF. Die dämonische Kreatur bietet sich als Beute an. Es ist in mehrfachem Sinne lohnenswert, das Biest zur Strecke zu bringen. Rasch ist die BESTIE gestellt, doch auf die Jäger wartet eine Überraschung.
LORD GRAVESTONE ist ein klassisches HORROR-GRUSEL-ABENTEUER im STILE des ORIGINALS von BRAM STOKER (DRACULA). Angesiedelt einhundert Jahre vor jener viktorianischen Ära wird das Leben der GRAVESTONES beleuchtet, einer Familie, die sich die Bekämpfung des Bösen auf die Fahne geschrieben hat. Zwei Brüder sind Priester geworden. Der eine dient der katholischen Kirche, der andere der anglikanischen Kirche. Da in letzterer die Priester heiraten und eine Familie gründen dürfen, ist der Fortbestand der Familie gesichert, denn mit dem kleinen JOHN wächst die nächste Generation heran.
Freilich genügen zwei Dämonenjäger alleine nicht, um die Mächte der Finsternis in Schach zu halten. Deshalb gibt es unterschiedliche Organisationen, ein Netzwerk von Gotteskriegern, aber auch die Rekrutierung von Nachwuchs, Schülern, die akribisch auf ihre lebensgefährlichen Aufgaben vorbereitet werden. Das allein wäre schon spannend genug und erzählenswert, stellte SZENARIST JÉRÔME LE GRIS nicht die Familie GRAVESTONE in den Mittelpunkt des Geschehens. So erreicht er ein Höchstmaß an Anknüpfungspunkten über verschiedene Charaktere. Da ist vom jugendlichen Überschwang bis zum sorgenvollen und erfahrungsreichen Mentor alles dabei. Wer einigermaßen gruselfest oder Horror-Fan ist, wird sicherlich Verweise entdecken. Nicht nur an das Buch-Orignal DRACULA, auch an seine zahlreichen Interpretationen.
Das schmälert das Vergnügen keineswegs, denn vor der Fülle all dieser Abenteuer besitzt LORD GRAVESTONE sehr viele eigene Anteile. Im besonderen Kern wird nicht bloß auf Grusel und die notwendigen Vampirbrutalitäten geachtet, sondern ebenfalls auf das Quäntchen Romantik und Erotik. Diese Beigaben hatte bereits das Original, ist doch der Akt des Blutsaugens im übertragenen Sinne ein sexueller Akt (Und wurde bei genauer Betrachtung in seinen zahlreichen Umsetzungen auch so gewertet; wer die jeweiligen Reaktionen der Opfer sieht, kann das bestätigen. Erst in jüngeren Jahren ändert sich diese Bild zugunsten eines menschlichen Opfers, das einen ähnlichen Rang einnimmt wie Schlachtvieh für uns Menschen.)
Hier wandelt sich das Bild des blutrünstigen Vampirs teilweise, indem die Verwandlung in einen Blutsauger in einen langwierigen Prozess mündet. Nicht, wer einfach gebissen wird, verwanelt sich, sondern wer den ROTEN KUSS empfängt, kann – selbst dann muss es nicht – zum Vampir werden. Zwei der Hauptakteure auf der Seite der dämonischen Widersacher sind zudem einander in Liebe zugetan. Neben körperlicher Begierde stellt Zeichner und Kolorist NICOLAS SINER diese Verbundenheit sehr schön dar.
NICOLAS SINER konnte hierzulande bereits mit der Serie HORACIO D’ALBA auffallen. Hier konnte er bereits in einem Dreiteiler mit den Bildern zu einem historischen Szenario punkten. LORD GRAVESTONE, angesiedelt zu Beginn des 19. Jahrhunderts und später in dessen 1820er Jahren, zeigt eine Epoche, in der Militär und Waffentechnik der Zivilisation voranschreiten, der Rest aber noch nicht wirklich an der neuen Geschwindigkeit teilnimmt. Alte Architektur, alte Transportmöglichkeiten, alte Ansichten von Ehre in einer sich verändernden Epoche. Auch letzeres findet eine grafische Umsetzung. Wenn Ehre verletzt wird, konnte diese Verletzung nach Meinung manches Geschädigten einzig mit einem Akt der Gewalt gesühnt werden. In realistischen Bildern arbeitet NICOLAS SINER seine Vampirversionen ein, die über Fähigkeiten verfügen, solchen, die man als Horror-Fan kennt und solchen, die die Detailfülle der Monströsitäten erweitern.
Eine starke Schauermähr! LORD GRAVESTONE, angelegt als Trilogie, bietet mit seinem Auftakt ein spannend durcherzähltes Horrormärchen mit ein paar schaurig schönen Charakteren. Wer es im Gruselgenre eher klassisch mag, findet hier die genau richtige Lektüre – mit einigen modernisierten Anpassungen versehen. Toll illustriert von NICOLAS SINER! 🙂
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Samstag, 26. August 2023
ROBERT SAX führt die geerbte Autowerkstatt, aber irgendwie ist er fehl am Platz. Seine Sekretärin hat das Büro besser im Griff als er. Außerdem ist der Chefmechaniker Raul um einige Grade der bessere Reparateur als ROBERT SAX. Da trifft es sich, wenn das Telefon klingelt und etwas scheinbar Wichtiges zu erledigen ist. Am besten solche Kleinigkeiten, die außerhalb der Werkstatt erledigt werden müssen. Eines Tages ruft ROBERTS Freund BOON an. BOON betreibt einen Buchladen und berichtet über ein seltsames Erlebnis. Was zuerst nur als eine Kuriosität im Brüsseler Alltag daherkommt, binnen kurzer Zeit zu einem Fall, bei dem sich Spione und Killer die Klinke in die Hand geben.
Comic kann vieles. Ganz besonders toll ist es, wenn der Leser hierdurch in andere Welten oder in die Vergangenheit eintauchen kann. Mit ROBERT SAX gelingt genau letzteres Kunststück. Der Comic-Veteran RODOLPHE (Szenarist) und Zeichner LOUIS ALLOING mit in die aufblühenden 1950er Jahre, ins beschauliche Brüssel. Die Stadt schwankt zwischen altertümlichen Bauten und der nahenden Moderne, repräsentiert durch die EXPO 1958, in der das ATOMIUM, ein futuristischer Bau in Form eines gigantischen Verbunds aus neun ATOMEN, es schafft, das MANNEKEN PIS als weltweites Wahrzeichen der Stadt zu verdrängen. Aber es ist auch eine Hochzeit des KALTEN KRIEGES, in der Fortschritt gleichzeitig einen Vorsprung vor feindlichen Mächten bedeutet. Und als Ausdruck dieser Fortschrittshörigkeit kommt NUCLEON 58 ins Spiel.
ROBERT SAX schlittert in seinen ersten Fall wie die berühmte Jungfrau zum Kinde. Er demonstriert, dass er eben kein JAMES BOND oder ein anderer Geheimagent ist. An der Bar sitzen, kann er ganz gut, mit Frauen flirten auch, wenn allerdings Schusswaffen ins Spiel kommen oder gar körperliche Gewalt, dann hat sich das in entsprechenden Romanen wahrscheinlich leichter gelesen, als es in Wahrheit ist. ROBERT SAX muss diese Erfahrung jedenfalls ziemlich handfest machen. Auf der anderen Seite sind seine Fähigkeiten als Detektiv nicht übel. Noch nicht ausgereift, weil er das Handwerk nicht gelernt, aber immerhin verfügt er über ein paar polizeiliche Kontakte.
RODOLPHE hat seine Erfahrungen mit kriminalistischen Szenarien gesammelt. Hier wagt er zusammen mit LOUIS ALLOING einen geradezu nostalgischen Comic-Schritt. In vielerlei Hinsicht ist es auch eine Liebeserklärung an die Stadt Brüssel. Betrachtet man die Innenstadt, deren gebäude nicht unter dem Krieg gelitten haben und stellt ihn die neue moderne Sachlichkeit entgegen, der Verwaltungsgebäude, der glatten, glanzlosen Fassaden oder sogar ROBERT SAX‘ Wohnhaus, das sich heutzutage noch betonfrisch ins Stadtbild einfügen würde, merkt man allein an diesen Äußerlichkeiten, dass etwas im Wandel ist.
ROBERT SAX ist noch nicht ganz in dieser sich verändernden Welt angekommen. Sein Frauenbild ist etwas von gestern, während die jungen Frauen, denen er begegnet, schon einen Schritt weiter sind. Da mag eine flappsige Bemerkung seine Gesprächspartnerin vor den Kopf stoßen, und er ist ein Mannsbild, dessen Sensibilität diese Reaktion nicht einmal bemerkt. RODOLPHE hat viele kleine Charakterzüge eingearbeitet, kleine Szenen, die Leser dem zeigen, wo ROBERT SAX steht und wie er tatsächlich einen Lernprozess durchmacht.
AGENTEN IN DER DUNKLEN STADT: Ja, es ist todernst. Wer sich in dieses Geschäft begibt, kann sterben. Aber es mischt sich auch ein wenig Comedy unter, denn das Erreichen der Ziele erfordert manchmal Improvisation. Die wiederum fällt infolge einer gewissen Grundnervosität etwas unprofessionell aus. Keine Sorge, die Thrillerelemente überwiegen. RODOLPHE und LOUIS ALLOING lassen durchaus die Klassiker des Genres hochleben (DER UNSICHTBARE DRITTE, DER DRITTE MANN etc.). Das fällt besonders auf, wenn es ans Schleichen und Horchen geht und Verstecken die bessere Alternative ist.
LOUIS ALLOING arbeitet nicht mit der berühmten Ligne claire, die gerade in den Figuren den Realismus etwas vergessen lässt. LOUIS ALLOING ist immer noch sehr exakt, aber es darf auch mal etwas kantiger, etwas ruppiger sein, da darf sich eine Verdickung in eine Linie einschleichen. Sehr sauber insgesamt, doch nicht aus dem Ei gepellt. Feststellen lässt sich, wie sehr er sich in das alte Brüssel eingearbeitet hat. Automobile, Mode und Architektur bezeichnen die Veränderungen des Lebens jene 1950er Jahre. Formen brechen aus (wie bei den Fahrzeugen), eine Frau im roten Kleid fällt auf (und sei das Kleid nach heutigen Gesichtspunkten noch so bieder). Details bringen ein Lebensgefühl auf den Punkt, die grafische Fülle unterfüttert die starke Atmosphäre.
Wer die 1950er mag, wer Thriller vor dieser Kulisse mag und eben in einer besonderen europäischen Stadt wie Brüssel (nicht nur wie so oft in den USA), einen Helden wider Willen (der noch an sich arbeitet und mit seiner Aufgabe sichtlich wächst), ein tolles Gespür für den richtigen Moment und spannungssteigernde Elemente sowie den Umbruch jener Tage, der liegt mit dem Auftaktband von ROBERT SAX goldrichtig. Alle anderen dürfen ebenfalls einen Blick in diese fein erzählte und illustrierte Agentengeschichte riskieren! 🙂
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Dienstag, 22. August 2023
Eine der mächtigsten Kreaturen des Universums, der PHOENIX, suchte sich einst eine der mächtigsten Mutantinnen der Erde, JEAN GREY, als Hülle und stiftete großes Unheil – vereinfacht gesagt. JEAN GREY starb. Doch plötzlich, als sich vieles bei den X-MEN verändert hat, ihr ehemaliger Ehemann SCOTT SUMMERS eine neue Liebe gefunden hat, rührt sich etwas in den Tiefen von JEAN GREYS Grab. Ein halb verwester Leichnam gräbt sich durch die Erde, regeneriert sich mit Hilfe des PHOENIX. Aber ist sie wirklich die JEAN GREY, die alle kannten, die Freundin, die Kampfgefährtin? Oder ist sie etwas ganz anderes geworden?
GREG PAK hat den PHOENIX zurückgeholt. In gleich zwei aufeinander folgenden Geschichten, ENDSONG und WARSONG, sucht sich der PHOENIX ein neues Gefäß und wird zu einer gigantischen Bedrohung. Es schaukelt sich langsam auf. Zu Beginn kann keiner der X-MEN, nicht einmal EMMA FROST, genau sagen, ob es sich nicht um eine Täuschung handelt. In ENDSONG geht es um Macht. Um eine Macht, die der PHOENIX besitzt, nämlich jene über Leben und Tod. Liebe ist im Spiel, sogar reichlich, denn SCOTT SUMMERS war nicht der einzige Mann, der sich zu JEAN GREY hingezogen fühlte. Darüber hinaus, der wahre Grund für das Spiel des PHOENIX, gibt sich QUENTIN zu erkennen, ein junger Mutant, der nichts geringeres möchte, als seine große Liebe wieder LEBENDIG im Arm zu halten.
GREG PAK entwickelt eine erste Geschichte mit ENDSONG, in der die X-MEN mit sich selbst beschäftigt sind. Keine äußere Bedrohung (na, eine vergleichsweise kleine, aber die ist zu vernachlässigen). Dank der grafischen Umsetzung von GREG LAND wird ein KINTOPP-ERLEBNIS daraus, denn GREG LAND arbeitet gerne nah am Fotorealismus und verwendet Vorlagen aus dem Umfeld von HOLLYWOOD (manchmal sogar wiedererkennbar, manchmal machen sich Comic-Fans sogar auf die Suche nach dem entsprechenden Foto). Das ist ein wenig mystisch, gruselig und entfaltet eine gehörige Portion Fantasy-Feeling.
In der zweiten Geschichte, eine neuerliche Rückkehr des PHOENIX, mit dem Titel WARSONG, arbeitet auch Gefühle heraus, lüftet aber darüber hinaus ein ungeheuerliches Geheimnis (im wahrsten Sinne des Wortes!) und ist schon actionlastiger als die erste Hälfte des Bandes. Das Tempo ist größer. Außerdem, im Gegensatz zu ENDSONG, hat WARSONG für das MARVEL-UNIVERSUM durchaus Relevanz. Was in ENDSONG passierte, kann getrost vergessen werden. Es hat keinerlei Nachwirkungen. Ganz anders WARSONG, das die Zöglinge von EMMA FROST in den Mittelpunkt stellt.
Als Zeichner dieser zweiten Episode tritt TYLER KIRKHAM in Erscheinung. Stilistisch liegt er auf einer Welle wie JIM LEE, MICHAEL TURNER oder ALAN SILVESTRI. Seine Zeichnungen wirken jedoch viel technischer, weniger intuitiv, weniger leicht skizziert. Ihre Wirkung ist starrer, was sich in Action-Szenen bemerkbar macht. Das ist weiterhin durchweg sehr gut illustriert, geht nur nicht die letzte Strecke, wie es ein JIM LEE machen würde. Die Leistung der Koloristen JUSTIN PONSOR und JIM STARR ist von Anfang bis Ende großartig und macht hier und da eine Klippe der Zeichner wett.
Ein Wort: BOMBASTISCH. Die X-MEN im absoluten Mittelpunkt, nur die GUTEN MUTANTEN stehen hier ihren Mann und ihre Frau. Letzteren fällt eine besondere Rolle zu, sie sind die Auslöser eines höchst dramatischen Spiels. INSGESAMT STARK ILLUSTRIERT von Top-Zeichnern im Zusammenspiel mit einem tollen Grafik-Team! 🙂
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Freitag, 11. August 2023
1610. Spanien. In der Region Navarra. Der junge ALONSO DE SALAZAR Y FRIAS ist als Inquisitor unbequem. Geschützt durch einen mächtigen Mentor, selbst einmal einer Anklage entronnen, vertritt er stets einen ganz eigenen Standpunkt und erkennt schnell, wen er charakterlich vor sich hat und sieht die Schwächen im System der Inquisition. ALONSO redet manchmal zu schnell, die Zunge ist rascher als das Gehirn und ignoriert Konsequenzen. Das mag jedenfalls der Eindruck seiner Gesprächspartner sein, besonders aber GONZALO ist dieser Ansicht. Als Sekretär und Leibwächter muss er für seinen Herren häufiger in die Breche springen, als ihm lieb ist. Bislang ließ sich so manche Situation bereinigen, doch die neue Aufgabe zeigt Grenzen auf und offenbart Kräfte, gegen die ALONSO und seine Getreuen (erst recht nicht der Neuling DIEGO) noch nie antreten mussten.
Auf der Basis eines Seriendrehbuches entstand der Zweiteiler SALAZAR, dessen erste Folge hier vorliegt. DAVID ABAJO und JAVIER QUINTAS kreierten die Vorlage, EL TORRES adaptierte sie und IGNACIO NOÉ lieferte die grafische Umsetzung. Besonders letztere ist es, die der Geschichte eine enorme Lebendigkeit und Nähe verleiht.
LEBENDIGKEIT und NÄHE funktioniert über CHARAKTERE. Und hier sind natürlich erst einmal die Hauptfiguren gefragt: ALONSO, GONZALO, DIEGO und nicht zuletzt MARIA. Zeichner INGANCIO NOÉ hat bereits mit dem hierzulande erschienenen HELLDORADO bewiesen, dass er historische Stoffe bearbeiten kann. Damals wie heute ist der Schlüssel, Figuren zu erschaffen, die so aus einem alten Meistergemälde gestiegen sein könnten. Darum sei am Ende, im Anhang begonnen, wo IGNACIO NOÉ einen Einblick darin gibt, wie er seine Figuren findet und gestaltet.
Einerseits inspiriert von KOPTISCHEN GEMÄLDEN, andererseits fündig geworden bei Künstlern jener Epoche wie einem EL GRECO (1541-1614), DIEGO VELÁSQUEZ (1599-1660) oder BARTOLOMÉ ESTEBAN MURILLO (1617-1682) entsteht ein optisch hervorragend recherchiertes Werk. Außerdem gleichen diese hier gezeigten Menschen, wie sie sich ganz offensichtlich in jener Zeit gaben, weil sie vielleicht doch eine Spur anders aussahen als heute. Und ihre Kleidung, ihre Haartracht diesen Eindruck sogar noch unterstrich. IGNACIO NOÉ lässt den Leser in diese Zeitspanne eintauchen, in das, was heute noch architektonisch Bestand hat, und jenes, das im Miteinander und täglichem Leben verloren gegangen ist.
Der Look seiner Bilder wirkt stets etwas entrückt. Die Farben kommen der Natur sehr nahe, aber eben nur nahe. Es ist eine Spur künstlich. Das hat nichts mit einer Computerkolorierung zu tun (die es eben nun einmal ist). Das ist so vom Künstler gewollt. In Räumlichkeiten, die vom Kerzenlicht erhellt werden (oder in denen nur punktuell Ecken aus der Dunkelheit gezerrt werden und der Rest im Zeilicht bleibt), stellt sich ein natürlicher Effekt ein. Darüber hinaus ist alles etwas blasser als in Wirklichkeit.
IGNACIO NOÉ liebt den fetten, expressiven Strich. Seine Figuren stehen wuchtig im Bild, sie füllen ihren Platz aus. Gesichter, Konturen, Profile, Faltenwürfe sind wie herausgemeißelt, hart vor dem weichen Hintergrund. Die Wirkung ist prall, als wären die Figuren fassbar. Je weiter von Reklamebildlichkeit unserer Gegenwart entfernt, umso echter, grandioser ist die Wirkung der Figuren und gleichzeitig schauen sie lebendig gewordenen Statuen ähnlich, kolorierten Büsten noch früherer Tage, als es vor Charakterköpfen gewimmelt haben muss. Insgesamt arbeitet IGNACIO NOÉ, als platziere er Figuren auf einer Bühne und holt den Zuschauer auf einen möglichst naheliegenden Stuhl, halb mittendrin im Geschehen.
EL TORRES fiel die Aufgabe zu, das Drehbuch zu adaptieren. Im Anhang wird schön veranschaulicht, wie der Prozess dieser Arbeit (bis zur fertigen Comic-Seite) aussieht. Denn Drehbuchseite ist nicht gleich Comicvorlagenseite. Aufbau und Bilderabfolge sind nicht identisch. Nicht alles kann und muss im Comic ebenso wahrgenommen werden wie im Medium Film. Spannend wird es, wenn die ersten Kritzeleien einen Seitenaufbau andeuten, sich alles schließlich verdichtet und nach der Kolorierung am Ende der Text hinzugefügt wird. Die Arbeit heutzutage am Rechner vereinfacht diesen Prozess erheblich.
So mag es Bilder geben, die den Sprung vom Bildschirm nicht auf die Seite geschafft haben. Allerdings gibt es Bilder, die dort von IGNACIO NOÉ umgesetzt wurden. Umso schockierender sind sie (auch, da Schockmomente überaus sparsam verwendet werden). In einer sich stetig spannungssteigernden Handlung zupfen solche Momente an den Nerven des Lesers.
THRILLER, MYSTERY, HORROR, GRUSEL, HISTORIENABENTEUER: SALAZAR 1, JUDICA CAUSAM TUAM, vereinigt verschiedene Genres in sich. ALONSO DE SALAZAR Y FRIAS (den ein junger Vincent Cassel gespielt haben könnte) ist eine Hauptfigur, die den Leser schnell für sich einnimmt. Mit Ecken und Kanten, ein paar Schwächen, dafür umso mehr Stärken versehen, ist er eine Art kirchlicher Detektiv, der den in menschlichen Abgründen nach der Lösung suchen muss. Diese ist diesmal anders, als er es bislang erfahren musste. Ungewöhnlich, düster, hart, packend! Sehr gut! 🙂
SALAZAR 1, JUDICA CAUSA TUAM: Bei Amazon bestellen.
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Dienstag, 08. August 2023
Nach den letzten Ereignissen sieht alles wieder nach einem ruhigen Lebensabschnitt aus. OWEN JOHNSON kann und darf sich wieder auf seine Familie konzentrieren, daheim in den Vereinigten Staaten von Amerika. Aber etwas hat sich verändert. Denn seine Familie weiß nun um seine Vergangenheit und um seine Fähigkeiten. OWEN JOHNSON beherrscht nicht nur die asiatische Kampfkunst, die ihm im ORDEN DER FLAMMENDEN FAUST beigebracht worden ist. Er verfügt außerdem über die Macht der FLAMMENDEN FAUST. Diese Fähigkeit ist seit langer, langer Zeit einzigartig und macht ihn zum Ziel. Und letztlich auch seine Familie.
ROBERT KIRKMAN, der Erfinder der Erfolgsserien THE WALKING DEAD und INVINCIBLE, schickt seinen Helden OWEN JOHNSON in die vierte Runde. Bereits in den ersten drei Bänden reaktivierte er das Genre KUNG FU EPOS, indem er ganz klassisch seinen amerikanischen Helden in ein asiatisches Kloster steckte. Das weckte allerlei SHAOLIN-Assoziationen. Doch ROBERT KIRKMAN ist als Autor (ähnlich wie ein QUENTIN TARANTINO) auf nostalgischen Spuren unterwegs. Er holte die ZOMBIES in die Gegenwart zurück, verpasste SUPERHELDEN eine Frischzellenkur, gab den DINOS einen neuen Kick. Und so verhält es sich auch mit den Krachern um KUNG FU, KARATE und andere Kampfkünste. ROBERT KIRKMAN setzt eine ordentliche (ziemlich fette) Portion FANTASY und MAGIE hinzu.
Das Titelbild des vierten Bandes gibt einen kleinen (wirklich nur einen kleinen) Eindruck. Oben glüht die FLAMMENFAUST, unten im Halbdunkel wartet das Böse, dessen Anführer von Schlangenkörpern umkränzt wird. Gut gegen Böse, Licht gegen Schatten, das ist der Kern von FIRE POWER. Und wieder ist mit OWEN JOHNSON ein Held am Start, der nicht um diesen Status gebeten, noch sich darum gerissen hat, diesen zu erlangen. Ganz im Gegenteil: Der Start der vierten Folge findet in den USA statt. Dort, wo OWEN JOHNSON bereits einmal glaubte, weit weg vom Geschehen und den Fehden zwischen ORDEN und CLAN zu sein. Kann der Leser es sich noch halbwegs vorstellen, wenn sich dunkle Schwert- und Karatekämpfer sich auf einem mystischen Berg in Asien bekriegen, fällt das im Umfeld einer ur-amerikanischen Vorstadtidylle schon schwerer. Aber es fasziniert auch viel mehr, wenn gerade dort die HÖLLE ausbricht.
CHRIS SAMNEE hat sich für MARVEL ausgiebig mit SUPERHELDEN beschäftigt. Darüber hinaus könnte er ohne Probleme und grafisch ansprechend eine komplette Geschichte über ein dramatisches, amerikanisches Vorstadtleben bestreiten, ganz im Stile von DESPERATE HOUSEWIVES, PRETTY LITTLE LIARS oder ähnlichem. Denn das gezeigte normale Leben der JOHNSONS, samt der Großeltern, der MIDDLE SCHOOL, dem Alltag von COPS (OWENS Frau ist eine Polizistin) funktioniert als Comic hervorragend und braucht sich nicht hinter anderen medialen Ausdrucksformen zu verstecken.
Aber ROBERT KIRKMAN ist eben nicht der Autor, der er nun mal ist, würde er sich mit derlei Themen begnügen. Für ihn sind sie nur eine Plattform, von der aus es sich durchstarten lässt (wenn er sie nicht gerade demontiert, wie er es in THE WALKING DEAD getan hat). Das BÖSE findet seinen Weg in die Idylle der Vorstadt. Das ist überraschend und geht mit einem Kippen der Farben einher. Plötzlich weicht das warme Licht, des Tages oder der Wohnzimmerlampen, einem giftigen Blaugrün oder es wird neongrell, wenn das BÖSE seine HEIMLICHKEITEN aufgeben kann und es seine Selbstherrlichkeit offen präsentieren kann. Natürlich nur, wenn es in der Überzahl ist.
Der Leser darf sich freuen! Aus der BESCHAULICHKEIT der amerikanischen VORSTADTIDYLLE wird es größer und größer und größer. Handelt es zu Beginn noch um Zweikämpfe, artet es in der zweiten Hälfte in epische Schlachten aus. Und das ist noch lange nicht das Ende der Fahnenstange. Hier scheinen ROBERT KIRKMAN und CHRIS SAMNEE Gefallen daran gefunden zu haben, es so richtig gigantisch krachen zu lassen. Was angesichts der bisherigen Ereignisse schwer vorstellbar ist. Aber sie schaffen es! WOW! 🙂
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Mittwoch, 05. Juli 2023
Es ist geschehen. Das Wasser ist gestiegen. Und die Menschen entwickeln einen neuen Lebensstil. HANS VOGEL ist einer von ihnen. Manche Menschen leben in den verbliebenen Städten. Manche auf kleinen Inseln inmitten des Wassers. Andere, so wie HANS VOGEL, kreuzen auf den Wasser, immer auf der Suche nach Nahrung und Gelegenheiten. Sein Bruder GORZA begleitet ihn manchmal, meistens jedoch lebt er bei seiner Mutter JEANNE. GORZA spricht nicht, seine Denkfähigkeit ist beeinträchtigt, darüber hinaus ist das Herz am rechten Fleck. Und dann ist da noch der blaue HUND, der ein paar recht seltsame Fähigkeiten hat.
Eines Tages kehrt HANS nach Hause zurück, bringt Vorräte auf die kleine Insel und hat einen Plan für die nächste Tour im Gepäck. GORZA soll ihn begleiten. HUND auch. Doch ungefährlich wird es möglicherweise nicht. Draußen sind noch andere mit ähnlichen Zielen unterwegs. Außerdem gibt es eine Obrigkeit, die glaubt, es wäre besser, alle Menschen vom Wasser weg in die Städte zu evakuieren. Aber die meisten lieben ihre Freiheit und irgendwelche neuen Vorschriften scheren sie nicht. Es ist nur eine Frage der zeit, bis es zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung kommt …
BENJAMIN FLAO kehrt mit einer neuen Graphic Novel zurück. Nach KILILANA SONG, einer zweiteiligen Geschichte, deren Handlungsmittelpunkt in KENIA lag, wirft BENJAMIN FLAO als Autor und Zeichner nun einen Blick in eine (denkbare) nahe Zukunft. Auf der einen Seite zeigt er jene Menschen, die sich mit den neuen Gegebenheiten abfinden und sich in ihnen zurechtfinden. Die andere Seite, eine Art Kehrseite, zeigt jene Gruppe, die am Althergebrachten festhalten will, in den Städten lebt, während um sie herum das Wasser steigt und auf ehemaligen Parkplätzen die Autodächer aus der Wasseroberfläche ragen.
HANS, GORZA und JEANNE versprühen eine gewisse Zufriedenheit. BENJAMIN FLAO verschafft ihnen und der Szenerie um sie herum eine positive Ausstrahlung. So schlecht, wie es für den Leser von außen scheint, scheint es nicht zu sein. Jedenfalls für jene, die noch die Segnungen der Zivilisation genießen, wie es HANS‘ TOCHTER VINEA macht. Obwohl sie ihrem Vater draußen, außerhalb der Stadtgrenzen, ähnlicher ist, als sie wahrscheinlich glaubt. 18 Jahre alt und Jura-Studentin, so hat sie den PUNK für sich entdeckt und lebt diesen gewissermaßen rebellisch aus. Sie rebelliert gegen das Establishment (auf ihre Art), und wer ihr blöd kommt, fängt sich eine. Da ist HANS ruhiger, ausgeglichener und mit etwas mehr Über- sowie Weitblick versorgt.
Die Charaktere sind gegeneinander ausgewogen, in sich stimmig, interessant, VINEA sogar ein wenig unbequem. Stellvertretend für den Leser darf eine Kommilitonin ihre Erkenntnisse mitteilen, nicht unbedingt wörtlich, aber ihr Verhalten ist aussagekräftig genug. Interessant ist, wie BENJAMIN FLAO Menschen beschreibt, die einerseits klammern, andererseits loslassen und sich auf etwas Neues einlassen. Noch interessanter hierbei ist, wie ausgerechnet ein junger Mensch an althergebrachtem Rebellentum festhält, das sich durch die äußeren Gegebenheiten eigentlich längst überlebt hat. Was vordergründig einfach und leicht erzählt scheint, ist hintergründig vielschichtig und sehr gut beobachtet.
Die Geschichte wirkt, gerade vor dem Hintergrund der letzten Anmerkung und den Bemerkungen aus dem OFF (vom blauen HUND), wie von einem illustrierenden Reisebiographen verfasst. BENJAMIN FLAO fängt Momente ein, Landstriche, Bilder und das ist mehr als nur die Herstellung von Atmosphäre. Ganz besonders, der blaue HUND seine Weisheiten und Gedanken einstreut. Er liest nicht nur in der Zeit und macht deutlich, dass diese neue Welt nur ein Stadium ist, kein Stillstand. Er liest zudem in den Herzen der Menschen (was HANS VOGEL erkennt und er vertraut entsprechend darauf, denn es hilft, Situationen nicht nur zu entschärfen, es hilft auch, den Ball gleich von Beginn an flachzuhalten und Missverständnisse zu vermeiden). HUND ist die Prise MYSTERY in AUF DEM WASSER. Aber es fügt sich gut ein. Wenn die bekannte Welt zugrunde geht, mag eine Spur mysteriöser Interpretation zum Verständnis der neuen Umstände helfen.
Stichwort Reisebiograph. Dieser muss nicht nur gut beobachten können, er muss auch schnell sein. BENJAMIN FLAO sammelt Eindrücke, entsprechend skizzenhaft sind seine Bilder. Etwas roh, grob, aber deutlich, eindringlich, unmissverständlich. Selbst eine Figur wie GORZA, dem kein vernünftiges Wort über die Lippen kommt, wird hier trotz allem zum verstehbaren und sympathischen Charakter. Die Farbpalette knallt nicht, sie hat ihre leuchtenden Momente, aber es ist eher so, als käme es immer wieder zu Bewölkungen und dunstigen Tagen (eben weil viel Feuchtigkeit in der Luft hängt). Ob beabsichtigt oder instinktiv, es passt von A bis Z.
Stimmungsvoll, dicht, stark beobachtet, fein erzählt, mit nachvollziehbaren Charakteren in einer sich drastisch verändernden Welt (die unserer in nicht allzu ferner Zukunft folgen könnte). Genug bleibt erhalten, um den Leser bei der Hand zu nehmen, reichlich verändert sich, was es zu entdecken gilt. In einer skizzierten Umgebung, die neben dem Bekannten ihre Andersartigkeit gerne zelebriert. Ein ruhiges Science-Fiction-Szenario, dem viel Inhalt innewohnt. Packend. 🙂
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Dienstag, 04. Juli 2023
Neues Team. Neues Glück? DOKTOR APHRA, die Archäologin und Schatzjägerin, hat neue Leute um sich geschart. Nachdem sie den Schwierigkeiten mit dem Imperium entkommen konnte, verläuft die Arbeit etwas entspannter – ohne imperiale Häscher im Nacken. Aber ohne Konflikte geht es dennoch nicht. TUBLEEK, einer aus ihrer Bande, will ihr in den Rücken fallen. Und das ausgerechnet auf dem Eisplaneten HOTH, wo APHRA und der WOOKIE BLACK KRRSANTAN soeben eine imperiale Einheit aufgemischt haben. LUCKY, der Scharfschütze aus ihrer Gruppe, löst das Problem. Endgültig.
Freiberufler suchen stets nach neuen Chancen und so ist es nach einem Job auch stets vor einem Job. Die nächste Chance naht mit der Studentin DETTA YAO. DETTA verfolgt die alte Legende zweier Ringe, die Unsterblichkeit und ewigen Reichtum verheißen. APHRA ist skeptisch, was derart sagenhafte Artefakte anbelangt. Allerdings, so DETTA, ist noch jemand von dem wahren Kern dieser Legende überzeugt: PROFESSORIN EUSTACIA OKKA. Leider ist diese eine ehemalige Flamme von DOKTOR APHRA. Animositäten und Schwierigkeiten sind so einmal mehr vorprogrammiert …
Eine Serie geschafft und jetzt der Neustart – zumindest Stand 2021, denn diese Serie liefert in diesem Monat den bereits vierten Band ab. DOKTOR APHRA ist eigentlich ein Kandidat für eine Streamingserie, zumal ein bekanntes Gesicht aus dieser Serie (sogar hier auf dem Cover) es in THE MANDALORIAN geschafft hat: BLACK KRRSANTAN. Wie will man DOKTOR APHRA beschreiben? Ein weiblicher INDIANA JONES im STAR-WARS-KOSMOS, allerdings jugendlich frech, sehr ego-fixiert, nicht unbedingt und schon lange nicht immer vertrauenswürdig. Die Liste ihrer Feinde ist wahrscheinlich nicht eben kurz und sie selbst macht sich nichts daraus, wenn eine Position mehr in dieser Sammlung auftaucht.
Der erste Band mit dem Untertitel GLÜCK UND SCHICKSAL handelt letztlich davon, wie DOKTOR APHRA eine neue Kerbe in diese Liste schnitzt. RONEN TAGGE, schwerreich, hat einen Spleen. Er hat Spaß daran, seltene Gegenstände zu erwerben (am besten einzigartige), diese zu berühren und anschließend zu zerstören. Sein Kick besteht darin, das letzte Lebewesen gewesen zu, das diese Artefakte besessen und berührt hat. Ja, da blinkt ein wenig der Wahnsinn durch (oder ein sehr hohes Maß an Exentrizität).
DOKTOR APHRA ist charakterlich so angelegt, dass sie gar nicht anders kann, als sich mit diesem Mann anzulegen (he, DARTH VADER stand auf ihrer Liste, da verwundert das hier nicht). Aus der Suche nach zwei seltenen Gegenständen (deren Existenz nicht bewiesen ist) wird eine Jagd und ein Kampf auf Leben und Tod. ALYSSA WONG lässt die Geschichte Haken schlagen, wartet mit Intrigen auf, satter Action und natürlich eine forschen DOKTOR APHRA, die immer ein As in der Hinterhand hat.
Grafisch ist MARIKA CRESTA in diesem Band für DOKTOR APHRA zuständig. Wie nicht wenige junge Comic-KünstlerInnen arbeitet sie mit einer sehr klaren realistischen Linie. Damit ist sie zum Beispiel in der Gesellschaft von PIA GUERRA (Y – THE LAST MAN) oder FIONA STAPLES (SAGA) oder TERRY MOORE (RACHEL RISING, STRANGERS IN PARADISE). Der Blick wird so auf jedes einzelne Bild konzentriert. Platzverschwendung, irgendwelche Kaschierungen gibt es hier stilistisch nicht – zwangsläufig. Das lässt den Leser selbst in den actionreichsten Momenten alles haargenau betrachten. Für das sehr atmosphärische Licht und das Farbenspiel sorgt RACHELLE ROSENBERG, die über diese Arbeit hier hinaus eine vielbeschäftigte Koloristin für MARVEL-Abenteuer ist.
Weiterhin ein starker Hauptcharakter im STAR-WARS-UNIVERSUM. Futuristisch wie immer, diesmal aber auch ein bisschen spooky. Die perfekte Serienfigur, die immer eine neue Facette offenbart. Toll gezeichnet und koloriert. So macht STAR WARS Spaß! 🙂
STAR WARS, DOKTOR APHRA, GLÜCK UND SCHICKSAL: Bei Amazon bestellen.
Oder bei Panini Comics.
Dienstag, 20. Juni 2023
Die Menschen sind fort. Damit einher geht leider nicht nur eine geringere Gefahr im Haus, sondern auch ein Mangel an Nahrung. Für die MÄUSEKOLONIE ist der Zustand furchtbar. Seit längerem schon schicken sie Späher in die nähere und schließlich weitere Umgebung, doch viel ist nicht mehr zu finden. Nicht nur die MENSCHEN in diesem Haus sind verschwunden. Ringsherum ist ebenfalls alles wie ausgestorben. Bis auf die Tiere. Die Suche da draußen könnte leicht sein, gäbe es nicht dieses Rudel KATZEN, das ebenfalls auf der Suche nach Futter ist. Und gäbe es nicht BUSSARDE. Oder SCHLANGEN. UND EULEN. Und gäbe es nicht diese geheimnisvollen MONSTER im Wald, in den sich niemand – aus gutem Grund – hineintraut.
MAC SMITH schenkt dem Leser ein Abenteuer mit MÄUSEN. Endlich gibt es einmal mehr Kleintierabenteuernachschub. Wer (wie ich) Abenteuer wie IM REICH DER MÄUSE (von GARRY KILWORTH), REDWALL (von BRIAN JACQUES) oder (natürlich ganz besonders) MOUSE GUARD (von DAVID PETERSEN) mag, der liegt mit dieser Geschichte goldrichtig. Aus der Sicht einer MÄUSEKOLONIE erzählt, in einer Gegenwart, die der unseren entspricht, mag der Leser schon anhand des Titelbildes ahnen, dass hier etwas sehr Lebensveränderndes geschehen ist. (Eine MAUS auf einem menschlichen TOTENSCHÄDEL.) Ausgerechnet jene, die so viel schlechte Veränderungen, über die Welt der Tiere gebracht haben, sind verschwunden. Und niemand weiß warum.
Zu Beginn begegnet der Leser der rothaarigen Maus WIX und seinem Rattenkumpel UMF. Beide sind sie Späher der MÄUSEKOLONIE. Und gleich zu Beginn wird klar, wie verzweifelt die Lage und wie lebensgefährlich die Situation jederzeit ausufern kann. Ihre Klugheit, Geschwindigkeit, selbstverständlich ihre Größe, ihre Flinkheit lassen die MÄUSE oft entkommen. Aber eben nicht immer. Immer wieder kehren Späher nicht zurück. WIX und UMF gehören zu jenen, denen das Glück beschert ist, einen glücklichen Heimweg zu finden.
MAC SMITH, der sich SCURRY ausgedacht, es geschrieben, gezeichnet und koloriert hat, liefert optisch ein filmisches Abenteuer ab. Die Grafik ist (zwar eindeutig am Rechner entstanden) grandios. Das beginnt natürlich zu allererst bei den Hauptdarstellern, den MÄUSEN. MAC SMITH hat sich eindeutig an echten Tieren orientiert (oh, ein Wortspiel 🙂 ), aber er gibt ihnen auch ein wenig zeichentrickübliche Putzigkeit mit und viele, viele individuelle optische Eigenheiten, um sie so für den Leser so leicht wie möglich unterscheidbar zu gestalten.
WIX ist zum Beispiel ein Veteran unter den Spähern. Nicht nur sein rotes Fell macht ihn unverwechselbar. Es hat zudem einige Kerben in seinem rechten Ohr, die er einem Katzenangriff zu verdanken hat. PICT, seine schneeweiße Freundin, stellt den Gipfel der Putzigkeit dar. Monströser wird es bei den Feinden der Mäuse: den KATZEN. Hier fällt eine ganz besonders auf. Etwas voluminöser als die anderen, mit einem von Krallen zerfurchten Gesicht, einem blinden Auge und einem ordentlichen Überbiss (mit starken Reißzähnen). Sie ist der Paradenebencharakter, angsteinflößend, gruselig. Wer die agierenden KATZEN in SCURRY sich anschaut, wird nichts von den knuffigen echten Fellknäueln entdecken, die ihren Besitzern so viel Freude machen (obwohl diese wahrscheinlich wissen, was ein Katzenfreigänger mitunter mit Mäusen nur so zum Spaß anstellt; etwas Ähnliches muss auch MAC SMITH gewusst haben, als er diese Bande KATZEN in Bildern verewigte).
Die stillen Momente der Geschichte sind schön und dienen der Charakterentwicklung. Es sind Ruhepausen des Abenteuers, denn die Stärke von MAC SMITH liegt eindeutig im Erzählen von ACTION. Er vermag filmische Schnelligkeit zu vermitteln. Dazu nutzt er einen Seitenaufbau, der den Leser teils zeilenweise, von Breitwandbild zu Breitwandbild mitzieht. Die Bilder sind überaus plastisch und jedes Bild auf jeder Seite ist ein kleines Gemälde. Neben den sorgsam gestalteten Figuren ist ein weiteres wichtiges erzählerisches Mittel von MAC SMITH der Einsatz von LICHT.
Figuren werden hinterrücks angestrahlt, sie stehen im Lichterglanz, in einem von Licht durchfluteten Zimmer oder (auch das Titelbild als Beispiel) leuchtende Augen versprechen einer Figur oder mehreren Figuren gleichzeitig einen grauenvollen Tod. Wie etwa der Überbösewicht der Geschichte, deren einen starken Cliffhanger hinlegt und eine ebensolche Versprechung für die Fortsetzung macht. Die Eröffnungssequenz in der Küche eines verlassenen Hauses zeigt sofort, wie punktgenau MAC SMITH alle angesprochenen Stärken seines Abenteuers vom Start weg einzusetzen vermag.
Starke kleine Charaktere in einer Welt, in der es von Gefahren nur so wimmelt. Darüber hinaus finden selbst in der MÄUSEKOLONIE Intrigen ihren Platz. Nichts ist sicher, Wendungen kommen unerwartet und rasch. Sehen die Hauptfiguren auch knuffig aus, macht MAC SMITH schnell klar: in dieser Welt lauert der Tod. Gefangene gibt es nicht. Tolles Design, perfekt inszeniert, mit viel Sinn für Spannung und atemlose Unterhaltung erzählt. Top! 🙂
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Sonntag, 30. April 2023
Es nicht so, als hätte sich der Killer noch nie versteckt gehalten. Und Einsamkeit war noch nie sein Problem. Er agiert gern allein, auf sein Ziel konzentriert. Das schätzen seine Auftraggeber an ihm, ist es doch eine Art Erfolgsgarantie. Aber so weit vom Schuss von allem, in einer winterlichen Landschaft, in einem Haus, dessen nächste Nachbarn irgendwo verborgen zwischen den schneebedeckten Höhen und Tiefen zu finden sind (und nicht gefunden werden möchten), war der DER KILLER lange nicht. DER KILLER findet diese Menschen in seiner Umgebung, er registriert sei, hält sich jedoch fern, obwohl alles nach einer unbarmherzigen Tragödie aussieht und andere sich vielleicht einmischen würden.
Manche Versuche, sich vom Leben fern zu halten, sind zum Scheitern verurteilt, wenn das Leben, genauer andere Menschen, nach Auswegen suchen und diese zwangsläufig den eigenen Weg kreuzen. In diesem Fall, den Weg des KILLERS. Hier sind es zwei Kinder, die in sein Haus einbrechen. Ihren Häschern entronnen, suchen sie nach einem Versteck. DER KILLER ist vorläufig bereit, ihnen in ihrer Verzweiflung das Versteck zuzugestehen. Denn, was wäre die Alternative?
Diese Überlegung überlässt MATZ, der SZENARIST, dem Leser. Nach allem, was der Stammleser vom KILLER weiß (und der Gelegenheitsleser sich bereits an diesem Punkt denken kann), bleiben nicht viele Möglichkeiten. Zumal DER KILLER durch seine Auftraggeber ein gewisses Handicap hat, weil er im Sinne einer überordneten Gerechtigkeit arbeitet. Will man es so umschreiben. Andere würden sagen: Er killt im Regierungsauftrag, weil er ansonsten selbst von der Bildfläche verschwindet. Auf die eine oder andere Art. Seine Auftraggeber sind nicht zimperlich und wissen (und besonders) eine öffentlichkeitswirksame Auftragserfüllung zu schätzen.
Das ist die eine Seite des KILLERS, die MATZ dem Leser zeigt. Letztlich ist es die Seite, die DER KILLER auch seinem Umfeld offenbart. Die andere Seite ist der sezierende Blick. Diesen legte er schon oft an den Tag, seine Sicht auf die Welt. Hier erreicht er einen Höhepunkt, einen Mix aus Philosophie, Psychologie und beruflichem Scharfsinn. Und nach und nach zieht er den Leser (wieder einmal, nicht immer und nicht grundsätzlich) auf seine Seite. Plötzlich erscheinen die Ziele seiner Aufträge gerechtfertigt, scheint es einen moralischen Anstoß zu geben, der alles, auch Mord als Rache und Prävention, an Vergeltung tolerieren lässt.
LUC JACAMON ist und bleibt der Comic-Zeichner von DER KILLER. Es gibt viele Comic-Helden (oder nennen wir sie Hauptfiguren). Viele sind mit einem markanten Äußeren gekennzeichnet, besitzen eine auffällige Versehrtheit, einen Tick oder ähnliches. Es macht sie unverwechselbar und lässt sie aus der Masse herausragen. Ganz anders DER KILLER. JUC JACAMON hat eine Figur geschaffen, die untertaucht, verwischt, unscheinbar ist. Deren Markenzeichen eine Brille ist. Wahrscheinlich würde so jemand gänzlich in der Menge verschwinden, sobald die Sehhilfe abgesetzt wird. Ansätze hiervon sieht der Leser, wenn DER KILLER seine Aufträge vorbereitet und sich so verhält wie manch anderer, als Tourist, Passant. Fast ein robotisches Aussehen, deren Mimik selten Emotion verrät.
Das macht den KILLER auch zur Leinwand, zur Projektionsfläche (wie es neudeutsch heißt). Die Erzählweise, Off-Text und Bildwahl, machen kein Geheimnis daraus, dass dieser Effekt gewünscht ist. Dem KILLER nicht nur über die Schulter schauen, sondern sich mit ihm identifizieren. Aber nicht mit der Barachialgewalt des Action-Kinos, sondern leise, behutsam, Schritt für Schritt, bis die Grenze überschritten ist und das Vorgehen des KILLERS sogar gutgeheißen wird. MATZ ist als Erzähler ein schlauer Fuchs!
LUC JACAMON lässt darüber hinaus die Bilder sprechen. Was sehen wir, was sieht DER KILLER? Da gibt es, wie in den Texten, auch etwas zwischen den Zeilen zu lesen. Wenn etwas normal wirkt und dennoch eine Bedrohung spürbar ist, ohne dass diese sich direkt einordnen oder benennen lässt. Das unterstreicht die Unvorhersehbarkeit der Handlung, auf die sich DER KILLER auch stets aufs Neue einzustellen hat.
Starker vierter Band, fast ein Neustart innerhalb der SECRET AGENDA. Eine sehr düstere Episode, obwohl sie anfänglich nicht so erscheinen mag. Der Leser wird hier ausdrücklich gefordert, das Kopfkino springt an. Ein fieser Trick von MATZ, wieder aufs Feinste von LUC JACAMON illustriert. Ein perfekter Comic-Thriller! 🙂
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Freitag, 31. März 2023
Zwei Männer im Schnee. Sie finden ein Gebäude, offensichtlich leer, verwaist. Das Inventar ist noch vorhanden. Es wird geplündert, natürlich nur die wirklich wertvollen Sachen. Man sieht zu, dass man Land gewinnt. Bevor einem noch jemand in die Quere kommt. Der alte Lieferwagen bleibt nicht unbemerkt. Ein Verfolger taucht auf. Aus einem Waldstück wird das Feuer aus automatischen Gewehren auf SLAVA und DIMITRI eröffnet. Der kleine Raubzug wird nun doch nervenaufreibender als erwartet …
Als die Sowjetunion zerbricht, verabschiedet sich nicht nur ein System. Auch viele Russen müssen sich von einer Ordnung verabschieden, die zumindest Beständigkeit versprochen hat. Einige Russen sehen im Zusammenbruch aber auch Chancen, um ihrer Armut zu entkommen. In den Ruinen des Sozialismus gibt es genug, was sich gewinnbringend verkaufen lässt.
PIERRE-HENRY GOMONT nimmt den Leser mit in jene Tage der Ära JELZIN, in den 1990er Jahren, als von westlicher Seite bloß mit großen Augen in Richtung Osten geschaut wurde. Innerhalb dieses Ostens fand jedoch eine brachiale Umorientierung statt. An der Seite zweier ungleicher Männer, SLAVA SEGALOW und DIMITRI LAWRIN, lernen wir eine Welt kennen, die mit ihrer Veränderung hadert. So, wie es Gesellschaften stets tun, wenn sich folgenschwere und unumkehrbare Veränderungen einmischen.
Während SLAVA von einem Leben als Künstler Abschied nimmt, macht LAWRIN eigentlich genau da weiter, wo er bereits als Jugendlicher angefangen hat. War er einst ein Prügelknabe, wurde er schnell zu demjenigen, der das hatte, was andere brauchten. Betritt LAWRIN nun ein (scheinbar) verlassenes Prunkgebäude der Sowjetunion sieht er rasch, welche Bestandteile sich gut zu Geld machen lassen. Aus dem einstigen Weltreich ist ein Ramschladen geworden. Und eigentlich könnte von da ab alles ganz toll laufen (wenigstens für SLAVA und LAWRIN), gäbe es nicht ein paar Begegnungen, die derartige Pläne unterlaufen.
PIERRE-HENRY GOMONT zeigt in seiner Graphic Novel unterschiedliche Charaktere, deren Auffassungen von einer Umwandlung der Gesellschaft stark voneinander abweichen. Da treffen die Vorstellungen eines Möchtegernturbokapitalisten auf die unverbüchliche russische Seele, fernab einer wie auch immer gearteten Ideologie, aus einem harten Lebensstil gefräst. SLAVA UND LAWRIN werden außerdem von NINA und ihrem Vater ausgebremst. Andere Begehrlichkeiten werden zum Thema, abseits von Geld und Ehrgeiz.
Geschichten entstehen nicht nur durch Charaktere, sondern auch durch Umstände. Der Zusammenbruch eines gesellschaftlichen Systems ist sehr speziell, und es lässt sich regelrecht darin eintauchen wie in einer völlig fremden Welt. PIERRE-HENRY GOMONTS Beschreibung hat Ähnlichkeit mit Nachkriegsszenarien, mit dem besonderen Unterschied, dass noch alles da ist. Nichts ist im eigentlichen Sinne zerstört. Trotzdem entsteht dieser Eindruck. PIERRE-HENRY GOMONT gelingt es, diese pessimistische auch resignierte Stimmung einzufangen. Aus der Sicht von SLAVA erzählt, wird die Situation immer gefährlicher, denn am Ende geht es schließlich ums Geld. Wer hat es, wer bekommt es, wer nicht?
PIERRE-HENRY GOMONT zeichnet, skizziert schnell, flüchtig, treffsicher. Er trifft die Charaktere, nicht bloß die Gesichter, nein, gleich die gesamte Figur. Das ist wichtig. Er trifft Haltung, Gestik, Blicke, Verhalten. Man will vielleicht zunächst über diese oder jene Figur lachen, bis man merkt, dass mancher handelnder Figur das Lachen vergeht. Der Tuschestrich ist wackelig, geschwungen, brüchig, als habe keine Zeit bis zum fertigen Bild verstreichen dürfen. Das Einfangen eines kurzen Moments, einer Szene, eines Lebensabschnitts, der schon fast vorbei ist, ehe er richtig erfasst werden kann. Was passt, denn für die Hauptcharaktere jagt die Zeit und so mancher bleibt auf der Strecke. Farblich beschränkt sich PIERRE-HENRY GOMONT (weitestgehend) auf Variationen von ROT oder BLAU, die Farben der russischen Flagge (neben WEISS).
DIE NEUEN RUSSEN ist ein Drama von PIERRE-HENRY GOMONT in Form einer Graphic Novel. Ein enger winterlicher Kosmos, in dem ein paar Charaktere einen Weg suchen, der sie in ein besseres Leben führt. Ein paar dieser Wege verheißen Hoffnung, andere sind traurig, wie vorbestimmt. Jegliche Anstrengung ist vergebens. Als Leser wünscht man SLAVA und DIMITRI sowie NINA nach kurzer Lesedauer alles erdenklich Gute. Man fiebert zwangsläufig mit, von der ersten bis zur letzten Seite. So, wie es sich für eine gute Geschichte gehört. 🙂
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