Sonntag, 05. November 2023
JOVAN und ALIANA werden Eltern. Die kleine DANITZA wird in eine Zeit hineingeboren, in der MARSCHALL TITO mit harter Hand über JUGOSLAWIEN herrscht. JOVAN hat als Dorflehrer keinen leichten Stand. Gerüchte machen die Runde. Es heißt, sein Vater habe im 2. WELTKRIEG mit den Deutschen kollaboriert. Es dauert nicht lange und die feigen Anschuldigungen und Lügen aus dem Hinterhalt fallen bei den geheimdienstlichen Behörden auf fruchtbaren Boden. JOVAN wird verhaftet. Zur gleichen Zeit, jenseits des Atlantiks, in den Vereinigten Staaten von Amerika, hat NERIO WINCH ganz andere Probleme. Er ist Geschäftsmann, außerdem nur 155 Zentimeter groß, ein Umstand, über den sich so mancher seiner Gegner auf dem finanziellen Parkett lustig macht. Allerdings lachen sie nicht lange, denn wenn es um Geld geht, ist NERIO WINCH gnadenlos und von geradezu teuflischer Schläue …
JEAN VAN HAMME schuf mit der Serie um LARGO WINCH eine der erfolgreichsten Comic-Serien (neben mehreren anderen). Die Thrillerreihe (demnächst erscheint bereits Band 24) hat eine frische Hauptfigur. Durch den Tod des Adoptivvaters gerät der junge Mann an die Spitze der GRUPPE W, eines weltweit und unternehmerisch sehr diffenrenziert agierenden Konzerns. Von jetzt auf gleich liegt ihm ein milliardenschweres Imperium zu Füßen. Was zuerst als Segen für einen Habenichts wirken mag, entpuppt sich schnell (fast) als Fluch. Geld und Macht wecken Neid. Daraus resultieren Intrigen und im schlimmsten Fall Mord.
Aber wie konnte LARGOS Adoptivvater NERIO WINCH ein derartiges Vermögen aufbauen? Das erzählt die Familiensaga DAS SCHICKSAL DER WINCZLAV, beginnend in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im dritten und letzten Band der Trilogie, DANITZA 1965, spielt die Moderne eine immer größere Rolle und der Wiedererkennungswert mit unserer Gegenwart steigt drastisch an. Zumindest auf einer Seite des Atlantiks. JEAN VAN HAMME erzählt uns zwei verschiedene Familienstränge (die er später gekonnt verbindet). Und so unterschiedlich diese Erzählungen sind, so anders sind die Charaktere (und Schicksale), die der Leser hier kennenlernt. In grundverschiedenen gesellschaftlichen Schichten (obwohl es Überschneidungen gibt), nähern sich der amerikanische und der jugoslawische Familienzweig einander an.
JEAN VAN HAMME kann nicht ins kleinste Detail hinein erzählen. Der Platz steht zwangsläufig in diesem Format nicht zur Verfügung. Also muss er auf ausgewählte und wichtige Ereignisse setzen (selbst davon gibt es noch reichlich!). Hierbei sind die Gegensätze der Lebenswelten toll gelungen. Sie grenzen sich ungeheuer streng gegeneinander ab. Auf der einen Seite das mondäne Amerika der Upper Class, auf der anderen Seite die Niederungen eines real existierenden Kommunismus mit all seinen dunklen Seiten. Wie die Annäherung dieser beiden Seiten klappt, ist lesenswert und ein echtes Kabinettstückchen. Wichtig ist allerdings, den bisherigen Anlauf zu diesem Finale zu kennen.
Mit PHILIPPE BERTHET steht für diesen Dreiteiler ein Comic-Künstler an JEAN VAN HAMMES Seite, der extra für dieses Special in das LARGO-WINCH-Universum eingestiegen ist. Er pflegt einen völlig anderen Zeichenstil als der LARGO-WINCH-Veteran PHILIPPE FRANCQ. Die Welt um die Figuren herum ist mit präzisem Strich realistisch abgebildet, allerdings etwas idealisiert. Bei PHILIPPE BERTHET ist alles ein wenig schöner als in Wirklichkeit. In der Klarheit seiner Bilder findet sich kein Schmutz, selbst abgelegene Gegenden und Morde sind ziemlich reinlich. Allerdings bietet die Geschichte in dieser Idylle reichlich Abgründe. Und Kuriositäten gibt es auch. Ich glaube, in Comics wurde nie zuvor ein Trabbi als Fluchtfahrzeug verwendet.
PHILIPPE BERTHET gelingt es, die traurigen Momente der Handlung einzufangen, die wiederum manchem halbseidenem Erfolg gegenüberstehen. Die Geschichte der WINCZLAV ist in vielen Fällen furchtbar, voller Verzweiflung (vor allem auf der jugoslawischen Seite des Erdballs), die Inszenierung richtig (schön) theatralisch, eindrücklich. Nach JEAN VAN HAMMES Vorgaben bleiben einem die Charaktere nicht fremd, noch lässt ihr Schicksal einen kalt.
Ein starker Abschluss, traurig und tröstlich zugleich. Natürlich endet die Geschichte der Familie WINCZLAV hier nicht. JEAN VAN HAMME hat sich eine wahre Achterbahnfahrt für die Familie ausgedacht. Wer sich manche prominente Familien in den USA anschaut, kann kaum verneinen, dass es sich tatsächlich so zutragen könnte. Also Hut ab, vor diesem teils bitteren, finsteren Realismus. Weiterhin fein inszeniert von PHILIPPE BERTHET, inzwischen ein Comic-Veteran, aber ein ebensolcher Garant für ein tolles Comic-Vergnügen. Zwei Daumen hoch! 🙂
DAS SCHICKSAL DER WINCZLAV 3, DANITZA 1965: Bei Amazon bestellen.
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Samstag, 26. August 2023
ROBERT SAX führt die geerbte Autowerkstatt, aber irgendwie ist er fehl am Platz. Seine Sekretärin hat das Büro besser im Griff als er. Außerdem ist der Chefmechaniker Raul um einige Grade der bessere Reparateur als ROBERT SAX. Da trifft es sich, wenn das Telefon klingelt und etwas scheinbar Wichtiges zu erledigen ist. Am besten solche Kleinigkeiten, die außerhalb der Werkstatt erledigt werden müssen. Eines Tages ruft ROBERTS Freund BOON an. BOON betreibt einen Buchladen und berichtet über ein seltsames Erlebnis. Was zuerst nur als eine Kuriosität im Brüsseler Alltag daherkommt, binnen kurzer Zeit zu einem Fall, bei dem sich Spione und Killer die Klinke in die Hand geben.
Comic kann vieles. Ganz besonders toll ist es, wenn der Leser hierdurch in andere Welten oder in die Vergangenheit eintauchen kann. Mit ROBERT SAX gelingt genau letzteres Kunststück. Der Comic-Veteran RODOLPHE (Szenarist) und Zeichner LOUIS ALLOING mit in die aufblühenden 1950er Jahre, ins beschauliche Brüssel. Die Stadt schwankt zwischen altertümlichen Bauten und der nahenden Moderne, repräsentiert durch die EXPO 1958, in der das ATOMIUM, ein futuristischer Bau in Form eines gigantischen Verbunds aus neun ATOMEN, es schafft, das MANNEKEN PIS als weltweites Wahrzeichen der Stadt zu verdrängen. Aber es ist auch eine Hochzeit des KALTEN KRIEGES, in der Fortschritt gleichzeitig einen Vorsprung vor feindlichen Mächten bedeutet. Und als Ausdruck dieser Fortschrittshörigkeit kommt NUCLEON 58 ins Spiel.
ROBERT SAX schlittert in seinen ersten Fall wie die berühmte Jungfrau zum Kinde. Er demonstriert, dass er eben kein JAMES BOND oder ein anderer Geheimagent ist. An der Bar sitzen, kann er ganz gut, mit Frauen flirten auch, wenn allerdings Schusswaffen ins Spiel kommen oder gar körperliche Gewalt, dann hat sich das in entsprechenden Romanen wahrscheinlich leichter gelesen, als es in Wahrheit ist. ROBERT SAX muss diese Erfahrung jedenfalls ziemlich handfest machen. Auf der anderen Seite sind seine Fähigkeiten als Detektiv nicht übel. Noch nicht ausgereift, weil er das Handwerk nicht gelernt, aber immerhin verfügt er über ein paar polizeiliche Kontakte.
RODOLPHE hat seine Erfahrungen mit kriminalistischen Szenarien gesammelt. Hier wagt er zusammen mit LOUIS ALLOING einen geradezu nostalgischen Comic-Schritt. In vielerlei Hinsicht ist es auch eine Liebeserklärung an die Stadt Brüssel. Betrachtet man die Innenstadt, deren gebäude nicht unter dem Krieg gelitten haben und stellt ihn die neue moderne Sachlichkeit entgegen, der Verwaltungsgebäude, der glatten, glanzlosen Fassaden oder sogar ROBERT SAX‘ Wohnhaus, das sich heutzutage noch betonfrisch ins Stadtbild einfügen würde, merkt man allein an diesen Äußerlichkeiten, dass etwas im Wandel ist.
ROBERT SAX ist noch nicht ganz in dieser sich verändernden Welt angekommen. Sein Frauenbild ist etwas von gestern, während die jungen Frauen, denen er begegnet, schon einen Schritt weiter sind. Da mag eine flappsige Bemerkung seine Gesprächspartnerin vor den Kopf stoßen, und er ist ein Mannsbild, dessen Sensibilität diese Reaktion nicht einmal bemerkt. RODOLPHE hat viele kleine Charakterzüge eingearbeitet, kleine Szenen, die Leser dem zeigen, wo ROBERT SAX steht und wie er tatsächlich einen Lernprozess durchmacht.
AGENTEN IN DER DUNKLEN STADT: Ja, es ist todernst. Wer sich in dieses Geschäft begibt, kann sterben. Aber es mischt sich auch ein wenig Comedy unter, denn das Erreichen der Ziele erfordert manchmal Improvisation. Die wiederum fällt infolge einer gewissen Grundnervosität etwas unprofessionell aus. Keine Sorge, die Thrillerelemente überwiegen. RODOLPHE und LOUIS ALLOING lassen durchaus die Klassiker des Genres hochleben (DER UNSICHTBARE DRITTE, DER DRITTE MANN etc.). Das fällt besonders auf, wenn es ans Schleichen und Horchen geht und Verstecken die bessere Alternative ist.
LOUIS ALLOING arbeitet nicht mit der berühmten Ligne claire, die gerade in den Figuren den Realismus etwas vergessen lässt. LOUIS ALLOING ist immer noch sehr exakt, aber es darf auch mal etwas kantiger, etwas ruppiger sein, da darf sich eine Verdickung in eine Linie einschleichen. Sehr sauber insgesamt, doch nicht aus dem Ei gepellt. Feststellen lässt sich, wie sehr er sich in das alte Brüssel eingearbeitet hat. Automobile, Mode und Architektur bezeichnen die Veränderungen des Lebens jene 1950er Jahre. Formen brechen aus (wie bei den Fahrzeugen), eine Frau im roten Kleid fällt auf (und sei das Kleid nach heutigen Gesichtspunkten noch so bieder). Details bringen ein Lebensgefühl auf den Punkt, die grafische Fülle unterfüttert die starke Atmosphäre.
Wer die 1950er mag, wer Thriller vor dieser Kulisse mag und eben in einer besonderen europäischen Stadt wie Brüssel (nicht nur wie so oft in den USA), einen Helden wider Willen (der noch an sich arbeitet und mit seiner Aufgabe sichtlich wächst), ein tolles Gespür für den richtigen Moment und spannungssteigernde Elemente sowie den Umbruch jener Tage, der liegt mit dem Auftaktband von ROBERT SAX goldrichtig. Alle anderen dürfen ebenfalls einen Blick in diese fein erzählte und illustrierte Agentengeschichte riskieren! 🙂
ROBERT SAX 1, NUCLEON 58: Bei Amazon bestellen.
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Sonntag, 30. April 2023
Es nicht so, als hätte sich der Killer noch nie versteckt gehalten. Und Einsamkeit war noch nie sein Problem. Er agiert gern allein, auf sein Ziel konzentriert. Das schätzen seine Auftraggeber an ihm, ist es doch eine Art Erfolgsgarantie. Aber so weit vom Schuss von allem, in einer winterlichen Landschaft, in einem Haus, dessen nächste Nachbarn irgendwo verborgen zwischen den schneebedeckten Höhen und Tiefen zu finden sind (und nicht gefunden werden möchten), war der DER KILLER lange nicht. DER KILLER findet diese Menschen in seiner Umgebung, er registriert sei, hält sich jedoch fern, obwohl alles nach einer unbarmherzigen Tragödie aussieht und andere sich vielleicht einmischen würden.
Manche Versuche, sich vom Leben fern zu halten, sind zum Scheitern verurteilt, wenn das Leben, genauer andere Menschen, nach Auswegen suchen und diese zwangsläufig den eigenen Weg kreuzen. In diesem Fall, den Weg des KILLERS. Hier sind es zwei Kinder, die in sein Haus einbrechen. Ihren Häschern entronnen, suchen sie nach einem Versteck. DER KILLER ist vorläufig bereit, ihnen in ihrer Verzweiflung das Versteck zuzugestehen. Denn, was wäre die Alternative?
Diese Überlegung überlässt MATZ, der SZENARIST, dem Leser. Nach allem, was der Stammleser vom KILLER weiß (und der Gelegenheitsleser sich bereits an diesem Punkt denken kann), bleiben nicht viele Möglichkeiten. Zumal DER KILLER durch seine Auftraggeber ein gewisses Handicap hat, weil er im Sinne einer überordneten Gerechtigkeit arbeitet. Will man es so umschreiben. Andere würden sagen: Er killt im Regierungsauftrag, weil er ansonsten selbst von der Bildfläche verschwindet. Auf die eine oder andere Art. Seine Auftraggeber sind nicht zimperlich und wissen (und besonders) eine öffentlichkeitswirksame Auftragserfüllung zu schätzen.
Das ist die eine Seite des KILLERS, die MATZ dem Leser zeigt. Letztlich ist es die Seite, die DER KILLER auch seinem Umfeld offenbart. Die andere Seite ist der sezierende Blick. Diesen legte er schon oft an den Tag, seine Sicht auf die Welt. Hier erreicht er einen Höhepunkt, einen Mix aus Philosophie, Psychologie und beruflichem Scharfsinn. Und nach und nach zieht er den Leser (wieder einmal, nicht immer und nicht grundsätzlich) auf seine Seite. Plötzlich erscheinen die Ziele seiner Aufträge gerechtfertigt, scheint es einen moralischen Anstoß zu geben, der alles, auch Mord als Rache und Prävention, an Vergeltung tolerieren lässt.
LUC JACAMON ist und bleibt der Comic-Zeichner von DER KILLER. Es gibt viele Comic-Helden (oder nennen wir sie Hauptfiguren). Viele sind mit einem markanten Äußeren gekennzeichnet, besitzen eine auffällige Versehrtheit, einen Tick oder ähnliches. Es macht sie unverwechselbar und lässt sie aus der Masse herausragen. Ganz anders DER KILLER. JUC JACAMON hat eine Figur geschaffen, die untertaucht, verwischt, unscheinbar ist. Deren Markenzeichen eine Brille ist. Wahrscheinlich würde so jemand gänzlich in der Menge verschwinden, sobald die Sehhilfe abgesetzt wird. Ansätze hiervon sieht der Leser, wenn DER KILLER seine Aufträge vorbereitet und sich so verhält wie manch anderer, als Tourist, Passant. Fast ein robotisches Aussehen, deren Mimik selten Emotion verrät.
Das macht den KILLER auch zur Leinwand, zur Projektionsfläche (wie es neudeutsch heißt). Die Erzählweise, Off-Text und Bildwahl, machen kein Geheimnis daraus, dass dieser Effekt gewünscht ist. Dem KILLER nicht nur über die Schulter schauen, sondern sich mit ihm identifizieren. Aber nicht mit der Barachialgewalt des Action-Kinos, sondern leise, behutsam, Schritt für Schritt, bis die Grenze überschritten ist und das Vorgehen des KILLERS sogar gutgeheißen wird. MATZ ist als Erzähler ein schlauer Fuchs!
LUC JACAMON lässt darüber hinaus die Bilder sprechen. Was sehen wir, was sieht DER KILLER? Da gibt es, wie in den Texten, auch etwas zwischen den Zeilen zu lesen. Wenn etwas normal wirkt und dennoch eine Bedrohung spürbar ist, ohne dass diese sich direkt einordnen oder benennen lässt. Das unterstreicht die Unvorhersehbarkeit der Handlung, auf die sich DER KILLER auch stets aufs Neue einzustellen hat.
Starker vierter Band, fast ein Neustart innerhalb der SECRET AGENDA. Eine sehr düstere Episode, obwohl sie anfänglich nicht so erscheinen mag. Der Leser wird hier ausdrücklich gefordert, das Kopfkino springt an. Ein fieser Trick von MATZ, wieder aufs Feinste von LUC JACAMON illustriert. Ein perfekter Comic-Thriller! 🙂
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Sonntag, 11. Dezember 2022
MONSIEUR VADIM (oder auch Vadim Koczinsky) ist Rentner und hat ein Problem. Sein Vormund, Monieur Canesta, hat ihn übers Ohr gehauen und ist mit all dem übertragenen Geld verschwunden. MONSIEUR VADIM fliegt aus dem Altersheim, in dem er untergebracht war, heraus. Familie, die ihm unter die Arme greifen könnte, ist nicht vorhanden. Sein Enkel, sein ganzer Stolz, ist noch viel zu jung. Seinen ehemaligen Schwiegersohn, der mit seiner inzwischen verstorbenen Tochter verheiratet war, verachtet er zutiefst. Der frühere Soldat der FREMDENLEGION leidet unter seinem Alter, unter den Zipperlein, unter der Machtlosigkeit infolge seines Systems, das seine Alten eher respektlos versorgt und lieber vergisst. Aber eines kann er MONSIEUR VADIM noch: sich wehren. Als er Zeuge eines Raubüberfalls in einem Schnellimbiss wird, kommt es zum Kampf zwischen ihm und gleich drei bewaffneten Ganoven …
GIHEF stellt eine Figur in den Mittelpunkt der Geschichte, die zutiefst um Mitleid heischt. MONSIEUR VADIM ist kein Chorknabe, wie es so schön heißt, aber er ist auch kein gealterter militärischer Apparatschik. Soldat zu sein, war ein Beruf und keine menschliche oder ideologische Überzeugung. Dahinter wollte er eigentlich nur das, was viele vom Leben wollen. Er liebt seinen Enkel und will diesen von seinem verbrecherischen Schwiegersohn fortholen. Eine Daily Soap im Fernsehen ist zusätzlich zu einer Art Ersatzfamilienleben geworden. Die kurze Zeit am Tag, in der er das fiktive Leben anderer Menschen verfolgt, ist ihm wichtig geworden, weil es ihn an noch etwas Wichtigeres erinnert.
Aber, in diesem Zusammenhang greifen die Thrillerelemente, MONSIEUR VADIM wird durch äußere Umstände dazu gezwungen, sich an alte Verhaltensweisen zu erinnern. Aus der Not geboren nimmt er ein Angebot an und gerät mitten hinein in einen Bandenkrieg an der Côte d’Azur. GIHEF treibt seine Hauptfigur richtiggehend in die Enge, bevor sich diese zu einem folgenschweren Schritt entschließt. Das ist alles nachvollziehbar. Und man will es dem alten, grantigen Kerl mit all seinem Unglück nicht übel nehmen, schließlich hat man als Leser inzwischen auch die Gegenspieler kennengelernt und weiß um deren Gefährlichkeit und Brutalität.
Hat man ein verschiedenen Stellen geglaubt, wie es nun weitergehen könnte, entstehen doch Wendungen, die so nicht vorhersehbar waren. Gerade je näher es auf das Finale der ersten Episode zumarschiert, desto knackiger sucht sich die Geschichte ihre eigenen Wege. GIHEF erzählt einen traditionellen Thriller, sehr filmisch, der mit einem JEAN PAUL BELMONDO, einem CHARLES BRONSON, aber auch einem siebzig Jahre alten KEANU REEVES funktionieren würde. Denn, weil der Charakter so gut funktioniert und mitreißend ist, funktioniert auch der Thriller.
Als Comic-Künstler treffen sich hier MORGANN TANCO (Zeichner) und CERISE (KOLORIST). Stilistisch findet sich ein expressiver Ausdruck, der seinen Figuren einiges an Charakter in die Gesichter (oder im Fall von Ganoven auch in die Visagen) legt. So ist MONSIEUR VADIM auf den ersten Blick bärbeißig, unleidlich, ein durch Alter geplagte Person, die langsam mehr Gefühle zeigt und sich öffnet. Und es gibt die eine oder andere Situation, in denen einem Mann mit mehreren Jahrzehnten Erfahrung als Soldat die Gesichtszüge entgleisen.
Der Hintergrund ist einmal nicht irgendeine französische Vorstadt oder ein Stadtteil einer Meotropole, den die Politik gerne vergessen möchte, sondern eine der Urlaubsregionen Frankreichs schlechthin, die Côte d’Azur. Vor dieser Kulisse entfaltet die Geschichte, die Gewalt, die Action noch einmal eine ganz andere Wirkung und das wird, das Titelbild zeigt es schon, sehr oft gerne genutzt.
Ein feiner Thriller mit einer knurrigen Hauptfigur, deren Panzer im Laufe der Geschichte immer weiter aufbricht. Sehr strikt erzählt, teils düster vor einem Mittelmeersonnenschein. Vor allem aber, weil der Hauptcharakter, MONSIEUR VADIM, so viel Profil besitzt, über die gesamte Sttrecke fesselnd. Klasse! 🙂
MONSIEUR VADIM 1, ARTHROSE, MORD & KRUSTENTIERE: Bei Amazon bestellen.
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Samstag, 06. August 2022
KILLTOWN. 1964. Lohngelder. Eine Kleinstadt. Ein Weg hinein, auf demselben Weg wieder heraus. Über den State Highway 22. Polizei. Bewaffnete Wachen. Eine Telefonzentrale. Ein kurzes Zeitfenster, um den Job zu erledigen. Ein begrenzte Anzahl von Leuten kann es schaffen. Wenn alle den Anweisungen und dem Plan folgen. PARKER kann den Ärger riechen. Je mehr Leute mitmachen, desto mehr Fehler können passieren. PARKER überlegt. Es sind alles Profis. Wenn nur GROFIELD nicht dabei wäre. Der ist zwar auch ein Profi. Aber auch ein Frauenheld. Und ganz im Gegensatz zu PARKER weiß er nicht, wann es besser ist, die Finger von Frauen zu lassen …
PARKER ist der Prototyp eines Gangsters. Wortkarg. Misstraurisch. Fokussiert. Professionell. Effizient. PARKER tötet, wenn er muss. Wenn er befürchtet, ansonsten ans Messer geliefert zu werden. PARKER arbeitet deshalb nicht mit Zivilisten. Das sind die, die keine Gangster sind und nicht zur Polizei gehören. Als Profi will er andere Profis um sich herum. Davon gibt es eine ganze Reihe. Gelingt ein Coup und war die Zusammearbeit zufriedenstellend, kann sich ein Team schon mal für weitere Gelegenheiten zusammenfinden. Während der Planung und Ausführung eines Coups gibt es eine Regel: Keine Frauen. Die lenken nur ab. Anschließend jedoch sind sie höchst willkommen.
KILLTOWN lautet der Titel der ersten Geschichte. Zuerst wird dem Leser erklärt, wie der Raubüberfall richtig ablaufen soll. Die Planung ist penibel, die Leute sorgfältig ausgewählt und die meisten machen wirklich einen professionellen Eindruck. DARWYN COOKE arbeitete grafisch mit einem minimalistischen Stil, der verlangte, dass ein Charakter mit wenigen Strichen und Formen einzufangen war. So gelingt der Sprung in die 1960er Jahre hervorragend. Wer also bereits den ersten Band gelesen hat, wird hier wieder perfekt abgeholt.
Ja, es gibt Dialoge, die der Informationsvermittlung dienen. Aber hier erfüllen sie auch den Effekt des Stimmungsaufbaus. Wo gibt es Spannungen? Wer tanzt aus der Reihe? Wo passen Charaktere überhaupt nicht zueinander? Wo – na, lieber Leser – geht der Coup zuerst den Bach runter? Die Dialoge sind außerdem entkernt, auf das Nötige reduziert, ebenso wie es die Bilder, die Charakterköpfe sind. Und hier zeigt sich eine weitere Stärke der Geschichte – neben der straffen Erzählung. Manches funktioniert ohne Worte und ist trotzdem eingängig, spannend. Selbst Gesichter bieten Lesestoff. DARWYN COOKE wusste, wie Mienen auf einen Blick erfassbar werden.
ICH BIN DIE DRITTE LEICHE LINKS. Die zweite Geschichte ist farblich nicht nur anders unterlegt als KILLTOWN (ein helles Blaugrau anstelle eines kühlen Oranges), sie bietet außerdem ein völlig anderes Szenario. Im Gegensatz zum ersten Abenteuer ist hier der Coup bereits gelaufen und PARKER befindet sich auf der Flucht. Auf eben jener sucht er Zuflucht in einem Vergnügungspark, außerhalb der Öffnungszeiten. Wir befinden uns in BUFFALO, NEW YORK im Jahre 1969, Ort der Handlung: FUN ISLAND.
Allein gegen alle. So könnte ein Untertitel heißen. Ein besonderer Unterschied zum ersten Thriller: Hat der Leser PARKER zuvor noch als umgänglichen Charakter kennengelernt, wenigstens im Rahmen seines Gangsterumfeldes, agiert PARKER nun als derjenige, der er im Kern seines Wesens ist. Ein eiskalter Killer. Eine zahlenmäßige Übermacht lässt ihn nicht verzagen. Das Gelände wird genutzt, um den Feind zu bekämpfen. Zu Beginn nutzt er jeden Vorteil, er ist derjenige, der jagt. Im weiteren Verlauf wird er zur Beute, die sich erbittert wehrt.
Nein, PARKER ist nicht nett. Dennoch, und das ist der Kniff an der Sache, einerseits von DARWYN COOKE (Adaption), andererseits von RICHARD STARK (Autor der Vorlage). PARKER ist ein Mörder. Aber der Leser wird zum Mitfiebern gezwungen. Ganz anders als bei späteren Helden, die zwar auch Leute umlegten und immerhin Cops waren.
Die kantigen Züge PARKERS passen toll zu dieser Figur, zu DARWYN COOKE seine ganz eigenen Entwürfe angestellt hat. Gemäß der Ära, in der die PARKER-Geschichten handeln, hat sich DARWYN COOKE an altgedienten HOLLYWOOD-Schauspielern bedient. STEVE MCQUEEN taucht lediglich einmal als MUSTERSKIZZE auf und könnte eine prima Vorlage sein, hätte DARWYN COOKE mit einem BURT LANCASTER in seinen besten Jahren nicht die absolut perfekte Blaupause gefunden. Dessen Züge bricht DARWYN COOKE letztlich in seinen unverwechselbaren Zeichentrickstil herunter.
Eine Auswahl von Zeichnungen, die für Ausgaben von illustrierten Romanen genutzt werden sollten, zeigen deutlich, dass DARWYN COOKE es auch ausgefeilter angehen lassen konnte und wie penibel komponiert manches Bild war. Tolle Einblicke in den Schaffensprozess eines Ausnahmekünstlers. ED BRUBAKER, BRUCE TIMM und SCOTT DUNBIER erinnern sich außerdem in einem Gespräch an ihre Erfahrungen mit DARWYN COOKE.
Eine Kurzgeschichte, MORGEN, UND MORGEN, UND DANN WIEDER MORGEN (eine GROFIELD-STORY) kurz vor dem redaktionellen Teil rundet den Prachtband ab, der gleichzeitig die Werke von DARWYN COOKE um PARKER abschließt. Hier kommt wieder der erwähnte ED BRUBAKER ins Spiel. Gemeinsam mit SEAN PHILLIPS gestaltet er die Kurzgeschichte um eine der Nebenfiguren aus KILLTOWN. Das Künstler-Duo ist hierzulande bekannt durch SLEEPER und CRIMINAL, also erfahren in Sachen Thriller. Sie liefern ihre Arbeit als eine Art Verbeugung vor der Arbeit DARWYN COOKES ab. Gelungen, ja, detailfreudiger auf jeden Fall, aber bei weitem nicht so prägnant.
Eine großartige Zusammenstellung. Wie es schon im ersten Band der MARTINI EDITION der Fall war, präsentiert auch die zweite Ausgabe die abschließenden Werke DARWYN COOKES über den KILLER und BERUFSGANGSTER namens PARKER (geschaffen von RICHARD STARK). Ich behaupte, ein Leser kann merken, ob ein Comic-Künstler von einem Thema begeistert war. Hierin dürfte DARWYN COOKE aufgegangen sein. Das Ergebnis ist erste Klasse! Wer toughe Gangster-Geschichten mag, findet hier ein echtes Urgestein des Themas, im besten Sinne in einer Reihe mit Krimis aus der Schwarzen Serie Hollywoods. Empfehlenswert! 🙂
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Dienstag, 12. April 2022
Ein ganz normaler Tag. Die Menschen flanieren über die Straßen. Plötzlich ändert sich alles. Zwei Männer halten mit ihrem Wagen und steigen, ihre Kalaschnikows im Anschlag, aus. DER KILLER weiß, was als nächstes geschehen wird. Er kennt das System, er seziert es im Geiste. Er ist ein Problemlöser. Lange Zeit im Auftrag, später für die eigenen Interessen und inzwischen für ein geheimes Aufräumkommando. DER KILLER hatte lange agiert, als könne er nicht erwischt werden, dabei hatten offizielle französische Stellen ihn längst im Visier. Aber dort wusste man seine Talente zu schätzen. Man stellte ihn vor die Wahl: Einfahren oder ausführen. DER KILLER entschied sich für Letzteres.
Bislang verlief seine Arbeit in der französischen Hafenstadt auf Befehl. Das Verbrechen beherrscht die Stadt. Dealer, Mörder, Korruption. Von oberster Stelle gedeckt. Von noch höherer Stelle aus ist man nicht mehr bereit, bloß noch zuzusehen. Durch eine falsche Identität geschützt, beobachtet DER KILLER und tüftelt im kleinen Team an Lösungen, die nicht erkennen lassen, ob es sich um Bandenkriege handelt oder ein ordentliches Ausputzen der Straßen …
MATZ (Autor) und LUC JACAMON (Zeichner) haben ihren KILLER in ein Szenario geschickt, das dem (französischen) Leser in manchen Belangen bekannt vorkommen muss. Politik in Frankreich gibt ein leicht unterschiedliches Bild von dem in Deutschland ab. Von außen betrachtet ist es lauter, etwas greller, teils pikanter, glorioser. Die politische Parteienlandschaft ist eine andere. Das ist der Historie geschuldet. Revolution und kopflose Könige sind noch in guter Erinnerung. Wer den dritten Band von SECRET AGENDA, PRÄZISIONSARBEIT, liest, wird dem zustimmen.
Und der Titel des zugleich dritten Zyklus ist Programm. Grundsätzlich faszinierend an der kompletten Serie ist die Ruhe und Beherrschung der Hauptfigur. Gönnte sich DER KILLER zu Beginn noch Ausrutscher wie das Gründen einer Familie, ist er nun auf dem Höhepunkt von Coolness und philosophisch sezierender Finesse. Das macht selbst seinen (ihm zugewiesenen) Partner während der einzelnen Aufträge zumindest unruhig. Töten ist Geschäft, lautet die klare Ansage. Töten ist nicht Spaß. Töten kann höchstens noch Selbstschutz sein, wenn die Gefahr besteht, wiedererkannt zu werden. Das lässt einzelne Situationen nach einem Kinderspiel aussehen. In Wahrheit behält DER KILLER selbst unter Druck noch den Überblick. Während um ihn herum andere sogenannte Profis, sei es von der Polizei oder aus der Gangsterriege, die Nerven verlieren und, kurz gesagt, sterben.
Wenn es ein Spiel in dieser Geschichte gibt, dann ist es jenes Leben, das DER KILLER zur Tarnung aufrecht erhält. Es sind diese kleinen Momente, die ihm ein Lächeln entlocken. Und es ist nicht leicht zu verstehen, ob es tatsächlich jene Momente sind oder die Bekundungen von Kollegen, die ihm unterstellen, ein Glückspilz zu sein. Es ist erstaunlich, wie bereitwillig (obwohl gegen seinen Willen) und wie hervorragend DER KILLER diese Alltagsrolle spielt. Seine Anpassungsfähigkeit sowie seine Intelligenz sind stark ausgeprägt. Es wird in SECRET AGENDA bereits deutlich. Kennt man seine bisherige Vorgeschichte, werden diese Eindrücke noch besser untermauert.
Seine Weisheiten aus dem Off, Erkenntnisse aus einem Leben voller Gewalt rund um den Globus, belegen einerseits, wie weit er sich bereits aus dem normalen Leben verabschiedet hat. Andererseits legt ihm Autor MATZ Gedanken in den Mund, die auch jenen Lesern kommen können, die lediglich einen Tag lang durch sämtliche Nachrichtenkanäle springen, um einen Gesamteindruck der Menschheit zu erstellen. Es würde in der Öffentlichkeit nur einen leicht pychotischen Eindruck hinterlassen, ähnliche Schlüsse zum Besten zu geben. Oder man ist Kabarettist. Doch davon ist DER KILLER weit entfernt.
LUC JACAMON trägt mit seinen auf Realismus ausgelegten Zeichnungen die Serie. Verabschieden müssen sich die Leser von exotischen, internationalen Kulissen. Dafür taucht der Leser in das Alltägliche ein, was den Realismus noch wichtiger werden lässt. Denn hier lauert hinter dem Alltag das Verbrechen und ungezügelte Brutalität. MATZ hat seinen Kollegen LUC JACAMON hier zwei Polizisten gestalten lassen, die als das postive Gegenelement des KILLERS gewertet werden können. Die aber gleichzeitig erkennen, dass eine Zeitenwende durch die Ereignisse in diesem Band stattfindet. Die beiden Buddys sind (als Nebendarsteller) fein illustriert und in der Geschichte aufgebaut (fast könnte man an die Vorbereitung eines Spin-offs glauben). LUC JACAMONS Illustrationen sind darüber hinaus gewohnt souverän. Stellenweise tragen sie die Atmosphäre hervorragend. Besonders die Tristesse von des KILLERS vorgestäuschtem Leben wird schnell fassbar.
DER KILLER ist ein Garant für einen Top-Thriller, gerade im dritten Zyklus, der dem europäischen Leser deutlich näher ist als die vorangegangenen Geschichten. Top illustriert von LUC JACAMON, top erzählt MATZ, der den Leser (könnte man sagen) zum Mitwisser macht. Die Kenntnis um die Ereignisse in den vorherigen beiden Bänden von SECRET AGENDA ist allerdings Pflicht. 🙂
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Montag, 31. Januar 2022
DAKOTA SMITH und CHELSEA TYLER werden von der Polizei gesucht. Ihre Fahndungsfotos werden im Fernsehen gezeigt. Die Polizei wird angefeindet, denn anscheinend macht sie ihren Job nicht vernünftig und fasst die beiden Frauen einfach nicht. Immerhin gehen zwei Cops einer Meldung nach und befragen eine Kellnerin in einem Diner. Routine. Aber sie werden beobachtet. Und erwartet. Als sie das Lokal verlassen, stellen sie fest, dass sie nicht die einzigen Personen sind, die DAKOTA SMITH und CHELSEA TYLER finden wollen. Ein Wort gibt das andere, dann gibt einer der Cops eine falsche Antwort. Das kurze Treffen endet in einem Blutbad …
Mehr als nur ein Comic. Eine Satire wie auch eine Verbeugung vor den 1980er Jahren. SHOOTING RAMIREZ erzählt nicht nur eine Geschichte, einen Thriller, in dem sich diverse Action-Abenteuer des TVs und des Kintopps jener Ära mischen, es nimmt gleichzeitig die Werbung aufs Korn, die Popkultur. Es spielt mit jenen Tagen, als Frauen zu Action-Heldinnen wurden, ganz im Stile von FRAUEN MIT EINER 45er MAGNUM, und der DEATH WISH zum Vorreiter einer ganzen Generation von Action-Baller-Filmen wurde. Das aufmerksame Auge findet hier den PINK CADILLAC genauso wie einen roten Sportwagen, der einem FERRARI TESTAROSSA wie aus dem Gesicht geschnitten ist (wolle man, wie es manche später taten, einem Auto eine vermenschlichte Persönlichkeit unterstellen), aber anders heißt und echte JAMES-BOND-AUTO-QUALITÄTEN entwickelt.
Kurzum, hier geht es nicht nur um eine Comic-Geschichte, hier geht es NICOLAS PETRIMAUX um die Beschreibung eines Zeitalters und dem damit einhergehenden FEELING jener Tage. Doch nicht zu vergessen: SHOOTING RAMIREZ ist ein Thriller! All das FEELING schafft nur den Unterboden für eine Geschichte, die eigentlich um einen Anti-Helden herum gestrickt ist. Hinzu kommt, dass dieser Anti-Held außerdem kein Wort sagt (weil er stumm ist) und nur über seine Mimik und seine Haltung mit dem Leser kommuniziert. Und natürlich mit allen anderen Charakteren im Comic, sofern sich diese darauf einlassen. Am Beispiel seines Vaters gibt es noch die Variante, in einem eigentlich nicht existenten Gespräch die fehlenden Antworten gleich mitzuliefern.
Staubsaugerbestandteile werden hier als Waffen zweckentfremdet in arg brutalen Auseinandersetzungen. Was wieder zu den toughen Frauen führt. Toughe Frauen sind ein heißes Thema in der medialen Welt. Toughe Detektivinnen in Romanen, toughe Monsterkillerinnen in Horrorserien, toughe Rächerinnen in Filmthrillern, was den Kreis wiederum schließt. DAKOTA SMITH und CHELSEA TYLER sind keine THELMA und LOUISE, sind eher die BRAUT im Quadrat (aus KILL BILL). Hier sind zwei Damen unterwegs, die sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Sie teilen aus, stecken ein, geben alles, bis zum letzten Quäntchen Power.
Und damit geht es auch sogleich zur grafischen Umsetzung. Nicht nur, dass NICOLAS PETRIMAUX klassische 1980er Film- und Fernsehszenarien mit neuzeitlichen Erzählstrukturen mixt, er wählt für die Optik seiner Seiten auch einen geradezu filmischen Ablauf. Und darüber hinaus, zelebriert er so manche Szene richtig und gibt sich nicht mit einer Seite zufrieden, sondern streckt und intensiviert charakterliche Tiefgänge. Die Figuren werden gut aufgebaut, das Menschliche wird herausgearbeitet.
Im besten Sinne spektakulär sind die Inszenierungen der Action-Szenen. NICOLAS PETRIMAUX will mit seinen gezeichneten Dialogseiten stets einer Statik durch Perspektiv- und Ansichtswechsel entgegenwirken. Filmsprachlich wären das Kamerafahrten. Aber Dialog braucht auch eine gewisse Ruhe. Hier soll die Information rüberkommen, sich festigen. In den Action-Szenen lässt NICOLAS PETRIMAUX die Pferde laufen. Stichwort: Toughe Frauen. DAKOTA SMITH und CHELSEA TYLER sind zu diesem Thema in gleich drei hammerstarken Szenen vertreten, jeweils stets auf sich allein gestellt. CHELSEA schießt hierbei den Vogel ab.
Herausragend ist die Sequenz eines Live-Konzerts. Rock’n Roll und Pyrotechnik auf der Bühne, abertausende von Zuschauern, maskierte Musiker, sozusagen die DAFT PUNK des Rocks und alles mündet, unerwartet, in eine alptraumhafte Erinnerung, die ausgerechnet unserem Helden auf dem Gewissen lastet. NICOLAS PETRIMAUX zeichnet mit leichten Strichen, leichten Outlines. Volumen wird über eine pralle, plastische Farbgebung erreicht. NICOLAS PETRIMAUX ist ein meisterhafter Seitenarrangeur. Zu seinen Skills zählt er laut ARTSTATION STORYBOARDING, und das merkt man auf jeder Seite. Darüber hinaus weiß er eine Sequenz mitreißend aufzubauen. Es gibt welche, die sind von Dialogen geprägt und entsprechend gemächlich. Andere nehmen regelrecht Tempo auf und rasen schließlich mit ihrer Action fast wortlos dahin. Beispielhaft ist das erwähnte Live-Konzert. Es gibt einen Songtext, den man beinahe überfliegt, weil die Szenerie in einem fantastischen Realismus vor dem Auge abläuft.
Ein starker Thriller, weiterhin im gelungenen 1980er-Jahre-Design. Hier werden keine Gefangenen gemacht, szenisch an ein erwachsenes Publikum gerichtet, das mit Quentin Tarantino und/oder Michael Mann aufgewachsen ist. Hier finden unterschiedliche Thrillertypen zueinander, hart, geradlinig, hochgradig spannend von Anfang bis Ende. Der erste Teil sollte bekannt sein. 🙂
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Wer einen Eindruck über die Arbeiten von NICOLAS PETRIMAUX bekommen möchte, findet einen schönen Überblick auf seiner ARTSTATION-Seite: https://www.artstation.com/nicolab (Link)
Mittwoch, 22. Dezember 2021
SHANIA RIVKAS kann es endlich, nach den bestandenen Abenteuern, ruhiger angehen lassen. Ihr neues Ziel ist rein persönlicher Natur. Sie will mit ihrem Vater in den Vereinigten Staaten zusammenleben. Leider hat die Bürokratie hier vorerst einen Riegel vorgeschoben, denn es ist ihr verboten, in die USA einzureisen. Eine Möglichkeit gibt es aber noch. Sie könnte politisches Asyl beantragen und ihrem Vater folgen, dem eine solche staatliche Hilfe bewilligt worden ist. Das Problem: SHANIA muss zu diesem Zweck beweisen, dass ABEL RIVKAS ihr Vater ist.
LADY S hat in ihren jungen Jahren so manches Abenteuer bestanden. Mehr als einmal hätte sie dabei sterben können. In ihrer Gefühlslage schleicht sich eine Art Wunsch nach Ruhestand ein, zumindest in ihrer Tätigkeit im Umfeld von Geheimdiensten und Kriminellen. Ein letzter Trick soll helfen. PHILIPPE AYMOND, Autor und Zeichner in Personalunion, zerstreut die Hoffnungen seiner Hauptfigur LADY S sehr langsam. Der Leser, der mehr weiß als LADY S, kann nur mit einer gewissen Atemlosigkeit verfolgen, wie das Leben von SHANIA RIVKAS wieder den Bach runter geht. PHILIPPE AYMOND geizt nicht mit Überraschungen und Wendungen.
LADY S gehört zu den besten Thrillerreihen, die im Medium COMIC zu finden sind. Ein Rezept, das langlebige Serien dieser Art beherzigen, ist ein dicht gewobenes Netz origineller Schauplätze. So besucht der Leser nicht nur die gewöhnlicheren Schauplätze wie Genf oder Berlin. Man reist mit nach GUANTANAMO oder auch nach PARIS zur kleinen REPLIK der FREIHEITSSTATUE. In MEXIKO und den VEREINIGTEN STAATEN wird vor Kulissen agiert, die jedem WESTERN schmeicheln würden. Weniger plakativ, eher klassisch, fallen Bildfolgen aus, die typische Agentenszenarien beschreiben.
PHILIPPE AYMOND baut über die hier versammelten Abenteuer oder auch Thriller eine schöne Entwicklung von SHANIA RIVKAS auf. DNA, DER BRUCH, KRÄFTEVERHÄLTNIS, KRIEGSVERBRECHEN sind die hier in der dritten GESAMTAUSGABE erzählten Geschichten. Darüber hinweg entsteht ein weiter Spannungsbogen, der von PHILIPPE AYMOND gerne von der zweiten bis zur vierten Episode mit einem Cliffhanger beendet wird. Hiernach muss es noch weitergehen. Entweder gibt es einen Kracher oder jemand steht als neuer Erzfeind auf und nimmt LADY S als Zielobjekt ins Visier. Die erste Episode, DNA, bildet eher einen Abschluss zu den Geschichten, die in der zweiten GESAMTAUSGABE ihren vorläufigen Höhepunkt fanden.
Keine Liebe? Ein Geheimagent ohne erotische Ausflüge kann doch nicht angehen!
Im Prinzip hat auch SHANIA RIVKAS einen Drang zu Affären oder sogar Beziehungen, aber das Leben ist gefährlich. Es bleibt wenig Zeit für Normalität und ein Leben, das quer über den Globus führt, hat für Normalität auch nicht viel übrig. Doch etwas fällt auf. SHANIA RIVKAS ist eben genau das. Eine ganz normale Frau. Vielleicht ein wenig begabter als andere. Aber sie ist nicht auf einem Selbstmordkommando unterwegs. Sie ist kein moderner weiblicher BOND (obwohl ihr Auftreten eine schöne Alternative zur männlichen Variante wäre). Ebensowenig ist sie ein DOM TORETTO. Die ACTION hier ist fast immer realistisch. Fast. In DNA taucht eine Sequenz auf, die kurz über das Ziel hinausschießt (und fast wie eine Hommage an eine verwandte Idee aus dem ALIENS-Comic-Universum erinnert).
Der Thriller KRÄFTEVERHÄLTNIS ist meiner Meinung nach die beste Geschichte der vorliegenden GESAMTAUSGABE. Hier findet sich alles, was LADY S zu einer sehr guten Serie macht. Eine verletzliche, über sich selbst hinauswachsende Hauptfigur. Ein optimales Erzähltempo, flott in der Action, überraschend, durchsetzt von gefühlvollen Ruhephasen. Und als echte Heldin muss sie (nicht zum ersten Mal) erkennen, dass Selbstlosigkeit nicht belohnt wird (zumindest nicht grundsätzlich und schon gar, wenn die Heldin eine Prägung für das weitere Geschehen erleben soll).
PHILIPPE AYMOND steht der Reihe nicht nur als Autor vor, sondern ebenso als Zeichner. LADY S ist eine Wohlfühlfigur. Bedeutet: Gut aussehend konstruiert, aber dennoch durchschnittlich. Sportlich. Anpassbar. Eine, rein optisch, Identifikationsfigur. Darüber hinaus, das ist sehr wohltuend, bricht PHILIPPE AYMOND seine Figuren nicht übers Knie, verpasst ihnen Individualität. Die Entwürfe wirken wie gecastet, besonders bei Schlüsselfiguren, auch solche, die nur in einer einzigen Geschichte ihren Auftritt als Nebenfigur haben. Hierzu gefallen mir die Figuren im vierten Thriller des vorliegenden Bandes, KRIEGSVERBRECHEN, einfach am besten.
LADY S bleibt ein THRILLER-KNALLER. Einzelgeschichten mit einem roten Faden, nämlich der kontinuierlichen Entwicklung der Hautpfigur. Eine Hauptfigur, die sich durchbeißt, von Schicksalsschlägen erschüttert, von Intrigen umgeben, aber auch mit immer neuen Verbündeten. Grafisch und erzählerisch liefert PHILIPPE AYMOND perfekte Comic-Unterhaltung ab. Stark! 🙂
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Sonntag, 07. November 2021
WLASI ist wie der PROTOTYP eines Angestellten im russischen Geheimdienst. Kühl, berechnend, maßlos neugierig. Ein Mädchen namens ZOE, im nordamerikanischen Raum sozialisiert, gerät in seine Fänge. Sie ist überhaupt nicht von ihm beeindruckt. Er hat gesehen, wie sie einen Mann in einer Kirche umgebracht hat. Er ist fasziniert. Offenbar existieren abseits seienr über die Jahre gesammelten Erfahrungen Dinge, die sich bislang seiner Kenntnis entzogen. Und WLASI scheint nicht im Geringsten zu ahnen, in welcher Lebensgefahr er sich wirklich befindet …
Man stelle sich vor, in fünf Jahren gehe nicht nur die Welt zum Teufel (oder sonstwo hin), nein, einfach alles würde verschwinden, verbrennen, zerbröseln. Chancen auf einen Neubeginn, einen neuen Urknall: Null. Bei TERRY MOORE ist eine ganz besondere Bombe für dieses riesige Fiasko verantwortlich. Und ausgerechnet seine Schöpfungen aus den Publikationen wie RACHEL RISING, STRANGERS IN PARADISE, ECHO und MOTOR GIRL wissen, dass der große Knall kommen wird. Also lässt er alle zur Rettung der Welt zusammenkommen.
Wer ein Fan von TERRY MOORES Werken ist, hat vielleicht den einen oder anderen Lieblingscharakter. Meine enstammen der siebenbändigen Serie RACHEL RISING. Allen voran geht RACHEL vorneweg, die junge Frau, die nicht mehr sterben kann. Eigentlich. Löscht hingegen besagte Bombe alles aus, komplett alles, bringt auch dieses Dasein nichts mehr. Auf dem zweiten Platz, ebenfalls aus RACHEL RISING, steht ZOE, ein mörderisches Mädchen, die das SLASHER-GENRE erfunden haben könnte (siehe auch Titelbild, erste Reihe, das Mädchen mit dem Beil). Die beiden werden in Mütterchen Russland eingesetzt, um die so genannte PHI-BOMBE zu stoppen.
An TERRY MOORES Arbeiten, der eben nicht nur zeichnet, sondern seine Geschichten auch schreibt, mag ich den zuweilen sehr schwarzen Humor. RACHEL und ZOE nehmen auch hier einen Großteil dieses düsteren Elementes mit. Andere Figuren stehen mehr für echtes Drama. Wenn eine Familie eine vorübergehende Trennung in Kauf nehmen muss und nicht sicher sein kann, ob die andere von ihrem Einsatz zurückkehren wird. JULIE und IVY, einst Feindinnen (in ECHO), arbeiten nun zusammen, trotzdem ist Vorsicht geboten, denn JULIES Kräfte können bei Menschen, die ihr zu nah kommen, Krebs auslösen. TERRY MOORES Figuren haben, so könnte man es umschreiben, haben ein gewisses Handicap, eine Eigenschaft, die sie daran hindert, ein für das gesellschaftliche Umfeld normales Leben zu führen.
Die Aufgabe der Frauen ist schon groß, wird jedoch noch durch die unterschiedlichen Eigenschaften erschwert. Aber es hält auch die Spannung durchweg hoch. Leser, die TERRY MOORE und seine Werke bislang nicht kannten, werden es ebenfalls schwer haben. Das hauseigene Crossover, das TERRY MOORE seinen Figuren beschert, erfordert Vorkenntnisse. Ich hatte Vorfreude auf das Erscheinen mancher Charaktere. Wenn MOTOR GIRL und ihr Kumpel auftauchen, macht das Spaß für Stammleser, Unkundige werden vielleicht etwas ratlos zurückbleiben.
Die Handlung schwankt zwischen Thriller und Mystery. Teilweise ist es eine Agentengeschichte. Andererseits kommen übernatürliche Elemente ins Spiel. TERRY MOORE durchbricht spielerisch sattsam bekannte Muster mit seinen Figuren. So wird Unvorhersehbarkeit zum Programm. Man kann sich als Leser nicht darauf verlassen, dass das Team die eigens gestellte Aufgabe, die Abwendung des Weltuntergangs schaffen wird. Gleich zu Beginn erfährt der Leser, wie die Apokalypse aussehen könnte. Hier werden also bereits Vorstellungen geschürt. Kurz: Der Weltuntergang ist grauenvoll und sehr schmerzhaft. (Man erinnere sich an SARAH CONNORS VISIONEN des JÜNGSTEN GERICHTS. TERRY MOORES VERSION ist fast eine Hommage an diese legendäre Filmszene.)
Ich mag die Kleinigkeiten in TERRY MOORES Szenen. Es sind nicht unbedingt Ereignisse, die die Handlung voranbringen. Es sind eher solche Szenen, Details, die den Geschehnissen einen kleinen Schubs geben. Wenn nach einem Mord ein TODESENGEL erscheint, um sich die SEELE DES TOTEN einzuverleiben, bleibt das im Gedächtnis. Wenn eine muskulöse Blondine höfliches Verhalten gegenüber Männern übt, sind das heitere Elemente, die einen zum Schmunzeln bringen.
Eine geballte Ladung gewöhnlicher und ungewöhnlicher Charaktere mit einer gemeinsamen Mission. Das zündet besonders aus FAN-Sicht. Bei genauer Betrachtung meint man sogar zu erkennen, wo TERRY MOORES Vorlieben bei den eigenen Figuren liegen (ZOE ist zweifellos eine davon). Fast rückt die gestellte Aufgabe etwas in den Hintergrund, steht doch tatsächlich mehr das WIE als das OB im Vordergrund. Gewohnt schön und sicher von TERRY MOORE illustriert, treffen hier THRILLER und MYSTERY fein abgestimmt aufeinander. Klasse! 🙂
FIVE YEARS: Bei Amazon bestellen.
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Freitag, 15. Oktober 2021
30. Oktober 1938. Ein korpulenter Junge, eine Gasmaske auf dem Gesicht, mit einer Pistole in der Hand und einer Schussverletzung in der Brust wird nachts auf der Straße von einem Auto angefahren. Sichtlich verwirrt stammelt der Junge etwas von Marsmenschen. Niemand weiß zunächst mit diesen Worten etwas anzufangen. Wenig später liegt der Junge im Krankenhaus. Sein komatöser Zustand macht jede Vernehmung unmöglich. Auch eine Operation scheint in weiter Ferne, denn die Kugel in seiner Brust steckt zu nahe am Herzen …
Das wohl bekannteste Hörspiel der Welt bildet die Grundlage der Comic-Adation von DOUGLAS BURROUGHS‘ Roman FAKE STORY. Der Roman hingegen ist ebenfalls ein FAKE. Gut inszeniert von LAURENT GALADON und JEAN-DENIS PENDANX. Nicht alle mögen das Hörspiel KRIEG DER WELTEN von ORSON WELLES gehört haben. Das Stück Radiogeschichte ist an den gleichnamigen Roman von H.G. WELLS angelehnt. Das ist kein FAKE.
Noch nie vom KRIEG DER WELTEN gehört? In Kurzform: Marsianer greifen die Erde an. Sie wollen die Erde erobern. Die Menschen sind dabei im Weg und werden gnadenlos vernichtet. Am Ende sind es nicht die Menschen, die den Krieg gewinnen, sondern Mikroben, Bakterien, Viren machen dem extraterrestrischen Gegner den Garaus. So jedenfalls im Original von H.G. WELLS. ORSON WELLES machte daraus eine Hörspielversion in Form einer Radioreportage im Jahre 1938. Die Welt lag damals in den Wehen eines heraufziehenden Zweiten Weltkriegs, die Nerven lagen blank und plötzlich berichtete das RADIO live von einer außerirdischen INVASION. Das war blanker Horror, denn so mancher begriff die Übertragung NICHT als Hörspiel.
FAKE STORY nimmt sich eines Ereignisses an, das sich im Laufe und der Folge der Hörspielsendung zugetragen haben soll. Nun, eigentlich beginnt die Handlung sogar noch vor der Sendung, aber das wird erst während der Ermittlung zum Geschehen deutlich. Der Journalist und Autor DOUGLAS BURROUGHS soll im Auftrag des Senders CBS herausfinden, ob sich tatsächlich wegen des Hörspiels eine Familientragödie abgespielt hat, in deren Verlauf der Vater und die Mutter des Jugendlichen TED OATES zu Tode kamen. Der Junge selbst liegt schwer verletzt im Krankenhaus.
DOUGLAS BURROUGHS trifft aus der Großstadt NEW YORK im kleinstädtischen GROVERS MILL ein, wo, dem Hörspiel zufolge, die INVASION der MARSIANER stattgefunden haben soll. Zuerst entdeckt der JOURNALIST nur das übliche Gemisch aus Wissen, Nichtwissen, Hörensagen und Gerüchten. Die Wahrheit liegt natürlich viel tiefer vergraben und hat rein gar nichts mit Außerirdischen zu tun. Doch das wird dem Leser allzu schnell klar. Und wenn die Wahrheit ans Licht drängt, ist die Geschichte noch lange nicht vorbei.
LAURENT GALADON, Szenarist, und Illustrator JEAN-DENIS PENDANX nehmen den Leser mit ins Jahr 1938. In NEW YORK lebt man massenorientiert der Zukunft entgegen. In GROVERS MILL, dem späteren Handlungsort, hält die Zeit noch den Atem an. Man begnügt sich mit zwei Polizisten. Nachbarn haben ein Auge auf ihre Umgegend. Im Lokaljournalismus ist das Handwerk etwas schludderig ausgeprägt. Die Sensation liegt im Blick, nicht unbedingt die nervenaufreibendere Wahrheit. Doch DOUGLAS BURROUGHS vergräbt sich in diese Welt, die mit dem CHARME ALTER FOTOGRAFIEN jener Ära daherkommt.
JEAN-DENIS PENDANX‘ Grafiken vermitteln einen handgemachten, uncomputerisierten Eindruck. Gouache, vielleicht Aquarellfarben mögen hier Verwendung gefunden haben. Mit leichtem Strich lässt JEAN-DENIS PENDANX Charakterköpfe und -gestalten entstehen. DOUGLAS BURROUGHS, der ermittelnde Großstädter, hager und abgeklärt, agiert mit detektivischer Sicherheit und optisch nüchternem Auftreten. Er ist der Mann, der Eventualitäten abwägt, sorgsam Beweise sammelt, die richtigen Schlüsse zieht. Ganz anders sein Pendant, die junge REPORTERIN der HEATHCOTE NEWS, ARETHA MILLER. Wenn sie auf ihrem Motorrad zum Tatort düst, mit Beteiligten wie der jungen ORNELLA YATES spricht, hält die starke zur Schau getragene Neugier so manchen auf Abstand und zwingt teilweise sogar zum Widerstand. All das transportieren die Bilder von JEAN-DENIS PENDANX, ohne dass es einer weiteren Erklärung bedarf.
Ein warmer, märchenhafter Vintage-Retro-Look verbirgt das Bitterböse im Kern und das vordergründig Offensichtliche der Handlung. FAKE STORY ist in diesen Zeiten sicherlich kein zufällig ausgewählter Titel. Zu jeglicher Zeit existierte die Bereitschaft das Unglaubhafte zu glauben, wenn Unwissenheit das Fundament bildet. Und sogar ein innerer Zwang jeder Korrektur des Unwissens entgegensteht. Das hier so eingefangene Bitterböse andererseits besitzt ähnlich aktuelle Bezüge und genügend historische Beispiele, leider.
Vordergründig leichtfüßig, hintergründig abgründig. Die schönen, stimmungsvollen Illustrationen von JEAN-DENIS PENDANX tragen eine düster-tragische Handlung, die Krimi und Drama zugleich ist. Das Szenario von LAURENT GALADON schärft durch die Verwendung einer vergangenen Zeit für die Geschichte den Blick auf aktuelles Geschehen. So ganz nebenbei. 🙂
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