Im Fegefeuer ist alles anders. Es brennt zum Beispiel nichts. Alles ist irgendwie klapprig. Kein Wunder, sind doch alle, die hier ankommen, ihrer Knochen verlustig gegangen und fristen nun ihr fleisch- und glückloses Dasein in einer Art Pseudogesellschaft, die kaum mit solchen vergleichbar sind, wie sie die Elenden noch von der Erde her kannten. Als ein ganz besonderer Neuankömmling – er erhält den neuen Namen Mardi-Gras Aschermittoch – diese Welt betritt, schöpfen einige Bewohner Hoffnung. Denn dieses Skelett war in seinem früheren Leben ein Kartograph. Mit seiner Hilfe sollte es endlich gelingen eine Karte dieser Welt zu erstellen – und vielleicht einen Ausweg zu finden.
Doch in einer Welt, in der ein Schluck Kaffee eine der höchsten Wonnen bedeutet, sind noch viele andere Aspekte zu beachten. Die Machtverhältnisse sind merkwürdig, ihre Beweggründe nicht immer zu verstehen. Hinzu kommt eine gewisse Beschaffungsschwierigkeit. Zwar kommen immer wieder einige Teile zusammen mit Neuankömmlingen von anderen Seite her durch, nur nicht immer das, was gerade gebraucht wird. Mardi-Gras’ Aufgabenstellung scheint unmöglich zu erfüllen sein.
Eine Karte fertigt man an, um die Topographie und alle Koordinaten zu erfassen, mit Hilfe von Luftbildern. Ganz zu schweigen von Ihren Beschaffungsmethoden! Sie sind wie dieses Teleskop … Reichlich abwegig!! Und was ist mit Papier, Feder, Stuhl, Schreibtisch? Sie haben gar nichts!
Schließlich willigt Mardi-Gras doch ein. Denn es geht um seine Seele. Aber selbst seine sehr eingeschränkte Physiognomie macht keinen Hehl aus der Tatsache, dass er vollkommen illusionslos an seine Arbeit herangeht. Éric Liberge führt den Leser nach dem Auftakt im ersten Teil noch tiefer in diese fremdartige Welt der Toten – oder sollte man sagen: der Verdammten – die in mancherlei Szenen recht tiefsinnig ist und sich allein dadurch schon von anderen Geschichten abhebt.
Geschmack! Ob es Teufelswerk ist, auf die eine oder andere Weise Zugang zu den schönsten Leckereien zu haben, aber den Geschmack aus seiner Erinnerung zu ziehen? Verzweiflung ist vielfach die Antwort. Manchmal entzieht sich der Mensch – oder das, was aus ihm geworden ist – aber durch schiere Ignoranz. Würde es Sand zwischen Planeten geben, würde er seinen Kopf hineinstecken. Wenn ich es nicht sehe, sieht es mich auch nicht. Mit Mardi-Gras hat Éric Liberge jedoch einen aufmüpfigen Charakter geschaffen, der angesichts dieser Mentalität in eine erfrischende Wut gerät. Allerdings auch eine, die ihn Hals über Kopf losrennen lässt. Der Ärger ist, der Leser kann es sich denken, durch diese beiden Extreme vorprogrammiert.
Ist die Handlung als solche erfrischend anders, spannend auf ihre dramatische und auch traurige Art, aber auch aufregend, da man als Leser an der Seite von Mardi-Gras auf Entdeckungstour ist, sind die Zeichnungen erst recht sehr ungewöhnlich.
Die Bilder sind, nicht zuletzt durch die skelettartigen Akteure bedingt, sehr feingliedrig aufgebaut. Die vorherrschende Stimmung ist dunkel. Es ist eine Welt des stetigen Verfalls und Untergangs. Wunden schließen sich nicht, nichts heilt. Skelette, die Knochen einbüßen mussten, sehen sich gezwungen, sich mit anderen Materialien zu reparieren. Die optischen Eindrücke, die Éric Liberge hieraus kreiert, sind schlichtweg phantastisch zu nennen. Das betrifft einerseits die grafische Technik, andererseits das Endergebnis. Manche Ausblicke, halb- oder auch ganzseitig, die einfach in ihrer Ausführung wirken, zeugen von großem handwerklichen Können.
Tumultartige Versammlungen der Skelette, Verkleidungen, Schiffe, die über schartig aussehenden Oberflächen schweben, verdeutlichen das optische Ende aller Tage, wie es die Nennung eines Infernos in den Köpfen des Lesers hervorruft. Das liegt auch an der vorherrschenden der beschriebenen Welt. Alles ist hier altertümlich, ein weiterer Garant für eine gruselige Atmosphäre, für eine Gespenstergeschichte im Sinne eines Wilhelm Hauff oder Oscar Wilde. Modernes sucht der Leser hier vergebens. Das modernste – oder eines der modernsten – Instrument dürfte ein Sextant sein. Éric Liberge gelingt das grafische Kunststück, mit vereinzelten Skeletten Sympathien beim Leser zu wecken, nicht zuletzt mit Mardi-Gras Aschermittwoch persönlich.
Eine spannende, dramatische, fast schon philosophisch zu nennende Fortsetzung. Ein wenig verzwickt vielleicht, nicht immer eingängig auf den ersten Blick, aber Leser sollen und wollen auch mal gefordert werden. Sehr anders und sehr gut. 🙂
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