Der Winzling ist das Überleben gewöhnt. Allein auf sich gestellt, gehört der Tod zum Leben dazu. Entweder kann er jederzeit sterben oder ist bereit, selbst zu töten. Mit dem Hund, der ihm über den Weg läuft, hat er Mitleid. Fortan wird das Tier ein treuer und geliebter Begleiter sein. Doch so ganz ohne Menschen geht es nicht. Der Winzling hat Glück. Selbst in dieser Welt, nach den Unruhen, den Kriegen, die aus einer Zivilisation einen Trümmerhaufen und Friedhof machten, gibt es immer noch Menschen, die sich um andere sorgen. Und so gerät der Winzling in die Obhut von Balu und Baghira.
Das Dschungelbuch hat schon verschiedene Varianten gesehen. Die Version von Crisse transportiert die Geschichte um das Waisenkind Mowgli in die Zukunft einer zerstörten Welt. Nicht Tiere, sondern Menschen übernehmen auch die Nebenrollen der Handlung, einzig ein Hund bleibt übrig und erzählt die Geschichte seines Herrchens. Denn der Winzling kann zu Beginn des Abenteuers noch nicht sprechen.
Der Junge wächst nicht nur nach der Zerstörung der Welt auf, er selbst auch auch mit den Folgen zu kämpfen. Das Kind hat früh gelernt, sich gegen Feinde, in diesem Fall Erwachsene, zu verteidigen. Bei einer dieser Gelegenheiten hat er sich gegen einen Mann aufgelehnt, der eine Niederlage nur schwer verkraften kann und den Jungen seither mit seinem ganzen Hass verfolgt: Shir Khan. Und gäbe es nicht den alten Balu und die junge Baghira, würde Shir Khan sein Ziel sicher sehr bald erreicht haben.
Die Konstruktion dieser Handlung, das ist für viele, die mit der Disney-Variante der Geschichte groß geworden sind, bestimmt keine Überraschung, hat nichts Schmusiges an sich. Vielmehr könnte man es als Mad-Max-Variante des Themas beschreiben. Nur die Starken überleben, die Zivilisation ist weitestgehend zum Teufel gegangen. Selbst bei jenen, die sich ein Stück Menschlichkeit bewahren wollen, steht der eigene Klan im Vordergrund. Fremde, wie sie schon Balu und Baghira waren, bringen dem Klan nur Ärger. Shir Khan, der früh vor den Palisaden der kleinen Siedlung erscheint und den Jungen fordert, bestätigt diese misstrauischen Stimmen nur.
Aber Crisse entführt den Leser noch zu anderen Figuren, die zuerst fremd erscheinen, aber in ihrer Erscheinungsform logisch und interessant sind. Kaa ist ein Scharfschütze, der zeitweilig am Rande des Nervenzusammenbruchs wandelt. Der König führt eine Bande an, die Bandar-Log, die eigentlich jenen Irren, die Shir Khan folgen, in nichts nachstehen.
Marc N′Guessan hat sich für jede einzelne der Nebenrollen ein besonderes Erscheinungsbild überlegt. Besonders auffallend sind natürlich Balu (ein bärtiger, alter, ehemaliger Militärarzt), Baghira (eine dunkelhäutige Amazone mit kurzen Haaren und schwarzem Dress) und zu guter Letzt Shir Khan (ein asiatisch anmutender schlanker Mann, der ein Auge durch Mowgli verloren hat). Die Strichführung ist intuitiv, flott, leicht karikierend. Marc N′Guessan schafft ein stimmiges Gesamtergebnis mit den nötigen, organischen Strichen.
Der Leser findet so nicht nur sehr individuell gestaltete Figuren, auch eine sehr unterschiedliche Umgebung schafft Abwechslung. An vielen Stellen hat sich die Natur ihr Terrain zurückerobert, doch Relikte der Vergangenheit, industrielle Anlagen und Räume, die an einstige Errungenschaften erinnern, unterstreichen den langsam zerfallenden Charakter des gezeigten Landes. Die Affenbande haust in einer ehemaligen Militärbasis, mit Raketen, die sie nicht abschießen können, weil sie diese nicht verstehen, aber abschießen würden, wenn sie nur könnten.
Durch die Kolorierung von Yves Lencot und Laurence Quilici ergibt sich eine Welt mit einer gelben Grundtendenz. Hitze ist der Eindruck, der an erster Stelle vermittelt wird. Rost liegt in der Luft, ein weiterer Eindruck, der durch die Farbgebung in entsprechenden Kulissen entsteht.
Ein ungewöhnlicher Ansatz des Dschungelbuches, aber vielleicht gerade deshalb eine frische Variante und eine äußerst spannende, denn so lassen sich viele neue Facetten entdecken. 🙂
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