Der Wendekreis des Krebses ist erreicht. Für jene, die ihn zum ersten Mal auf Poseidons weiter See überqueren, ist eine Taufe fällig. Der Herr des Meeres, natürlich ein verkleideter Matrose, sorgt für die hochoffizielle, in jedem Fall aber traditionelle Zeremonie, in der es heiter zugeht. Überhaupt verläuft die Fahrt ruhig und ohne besondere Ereignisse. Einige Informationen sorgen für Unmut, auch Besorgnis. Der Sklavenhandel blüht. Tabak wird gegen Menschen eingetauscht. Ein Sklavenhändler beruhigt sich selbst und seine Passagierin Isabeau: Ein Sklave habe es in Gefangenschaft besser als ein freier Mann in Afrika. Die ersten Eindrücke der Landgänger scheinen diese These bald zu bestätigen.
Die Reisenden im Wind sind in Afrika angekommen. Francois Bourgeon zeichnet das Bild (im übertragenen Sinne) einer Endstation. Das Land ist wild, vieles unerforscht, es ist heiß, es herrschen ganz eigene Regeln. Eigentlich haben Weiße nichts in diesem Land verloren. Letztlich sind sie doch wegen der Sklaven hier, die auch mit Hilfe der Schwarzen im Land eifrig gehandelt werden. Die Lebensumstände sind spartanisch. Die Weißen üben sich im Müßiggang, denken sich Schwachheiten aus und besitzen angesichts der Umstände vor Ort eine ungesunde Portion Naivität. Francois Bourgeon lässt hier auch seine eigenen Helden nicht außen vor. Es dauert eine Weile, bevor selbst die junge Isabeau die wahre Tragweite der Geschehnisse begreift.
Das Leben ist derart üppig in diesem Land, dass es seinen Wert verloren zu haben scheint. Wahnsinn entsteht leicht, der Tod geschieht beiläufig. Angst regiert, ein Mittel, dessen sich gerade auch die Weißen bedienen. Aber am Ende, ab einem bestimmten Punkt, wenn der Aberglaube und der Wahn sich die Hand geben, bleibt auch ihnen nur der Rückzug.
Das Album beginnt nicht, wie man es als Leser gewohnt ist, sogleich mit der Geschichte. Wer die ersten Seiten aufschlägt, entdeckt einen Schriftsatz und eine Grundrisszeichnung aus dem Jahr 1776. Diese hat sich Bourgeon nicht ausgedacht. Sie stammt von Pater Bullet, der das im Comic vorkommende Fort vor langer Zeit dokumentierte. Heute liegen seine Aufzeichnungen im Nationalarchiv. Es folgen fünf Seiten, auf denen Bourgeon genau den Aufbau der Marie Caroline, des Segelschiffs, dessen sich die Reisenden bedienen, in Seitenansichten und Draufsichten dokumentiert.
So akribisch vorbereitet, wie diese Beispiele zeigen, ist der echte Eindruck des Szenarios kein Wunder. Im Vergleich zum Rest der Geschichte sind die Ereignisse an Bord relativ kurz geschildert. Die Zeit, die Bourgeon seinen Hauptcharakteren dort gönnt, ist vergleichsweise heiter, milde, für die Personen selber auch ein Stück weit langweilig (nicht für den Leser). Und nichts bereitet sie auf das vor, was an Land auf sie zukommen wird. Francois Bourgeon beschwört die Katastrophe langsam, fast schon heimlich herauf. Für die Weißen wird in diesem Land beinahe alles zum Feind, auch sie selbst.
Grafisch könnte Bourgeon als Dokumentarmaler dabei gewesen sein. Nach der Enge des Schiffes besticht die Weite Afrikas mit seinen hohen Gräsern und den spärlich wachsenden ausladenden Baumkronen. Dramaturgisch setzt Bourgeon die Weite dieses scheinbaren Paradieses wieder der Enge einer Gefangenenzelle gegenüber. Ob Frau, ob Kind, menschenunwürdig angekettet, von Fliegen umschwirrt hocken die Sklaven im Halbdunkel und harren ihrem Schicksal. Schlank, manchmal ausgezerrt, agieren die meisten Schwarzen hier wortlos, da nur die wenigsten der (oder irgendeiner) Sprache der Weißen mächtig sind. Augen, Gesten, Haltungen sagen letztlich mehr als Worte: Verzweiflung, Wut, auch Unverständnis. Hier treffen Welten aufeinander, die nicht zueinanderpassen.
Die Farbgebung ist zart, aquarellartig. Die Abgrenzungen, Außenlinien, getuschte Trennlinien sind extrem dünn, fast unauffällig, wie notgedrungen gezeichnet. So ergibt sich ein insgesamt filigraner Eindruck. Bourgeon arbeitet gerne mit vielen kleinen kurzen Strichen und versteht es, etwas anzudeuten und ihm so Form zu verleihen. Weniger ist hier mehr, viel mehr sogar. In den Gesichtern seiner von ihm erfundenen Charaktere finden sich zwar wiederkehrende Elemente, doch wirken die Figuren eher wie portraitiert als konstruiert.
Ein strenges, fast anstrengendes Abenteuer, das auf den zweiten Blick zwischen den Zeilen sehr düster ist, kompromisslos und exzellent in Bilder verwandelt wurde. Eine Graphic Novel im besten Sinne des Wortes. Wer realistische historische Szenarien mag, sollte einen Blick in diesen modernen Klassiker werfen. 🙂
Reisende im Wind 3, Handel mit schwarzer Ware: Bei Amazon bestellen