Moplai, der Mann mit der Narbe, hat wider Erwarten seine neuen Schützlinge in Sicherheit gebracht. An Bord eines Schiffes sollen sie weit weg auf die Antillen, ins Herz der Karibik gebracht werden. Doch die Sicherheit ist trügerisch. Der Mann mit der Narbe überlässt die Obhut seiner Schutzbefohlenen Kapitän Libert, den er ausreichend eingeschüchtert glaubt. Das ist ein Fehler, wie es sich für Alphonse und den Jungen Bernard bald erweisen wird.
Simon Andriveau hat seine Hausaufgabe gemacht. Mit der zweiten Folge von Das goldene Jahrhundert wird gleichzeitig eine Epoche längst vergangener Piratengeschichten wiedererweckt. Sofort fühlt man sich an jenen Urklassiker Unter Piratenflagge erinnert. Sklavenhandel und Sklavenarbeit auf den Inseln, irgendwo in der Karibik, wo viele Piratengeschichten angesiedelt sind.
Natürlich hinkt der Vergleich auch ein wenig, da es hier nicht um Piraten geht. Aber die Kulisse ist ähnlich der, die sich in einigen Filmen von Errol Flynn wiederfindet: Gegen alle Flaggen oder Der Freibeuter. Das goldene Jahrhundert atmet diese goldenen Jahre der Hollywood-Abenteuer. Andriveau spielt mit der Exotik des fernen Eilands, mit den Gefahren durch skrupellose Sklaventreiber und er zeigt das Leben der Sklaven in all seiner Härte. Der Ausweg, so scheint es, ist das Leben als Freibeuter. Wer es vermag, der läuft weg und schließt sich den Gesetzlosen an.
Vor dem Hintergrund von Intrigen und schauerlichen Gemetzeln entspinnt Andriveau eine ebenso abenteuerliche wie auch spannende Fortsetzung, verpflichtet sich aber auch dem Realismus. Leid entsteht hier durch Unglauben. Weder Alphonse, der auf den Jungen Bernard aufpassen will, noch Bernard selbst, der hier im Mittelpunkt der Geschichte steht, kann sich vorstellen, dass ihr Schicksal diese grausame Wendung nehmen soll, nachdem doch alles so arrangiert war, um sie in Sicherheit zu bringen.
Das Leben an Bord des Schiffes zu Beginn der Geschichte verläuft eher ruhig. Andriveau nutzt die Zeit, um ein paar Geheimnisse zu lüften und (ein absolut beliebtes und stets wiederkehrendes Stilmittel) neue einzustreuen. Damit die dramatische Enthüllung nicht ganz ohne Aktion verläuft, erfährt Bernard von einem der Mitreisenden etwas aus der Vergangenheit des Mannes mit der Narbe. Man fühlt sich angesichts des Verhaltens des Mannes an einen Rächer wie Wolverine erinnert, denn nicht selten hat der kleine Mutant ähnliche Vorgehensweisen ohne Rücksicht auf die eigene Person gezeigt. Der Mann mit der Narbe jedoch verfügt über keinerlei Selbstheilungskräfte, umso erstaunlicher ist es, wie er seine Schmerzen in bester Rächermanier wegsteckt.
Simon Andriveau skizziert mit großem Geschick. Er setzt sich selbst keinerlei Stilgrenzen. Es wird gestrichelt, schraffiert und gepunktet, falls nötig. Es gibt keine bestimmte Richtung, keinen Winkel, der dabei eingehalten wird. Das Ergebnis zählt, wie auch gleich das vorliegende Titelbild zeigt. Am Beispiel des Segelschiffes lässt sich sehr schön ein Teil der Technik von Andriveau erkennen. Seine Bilder sind sehr ausdrucksstark. Sie lassen auch sehen, dass es einen Entstehungsweg gab. Nicht selten scheinen noch Bleistiftstriche durch. Andriveau lässt keinen Interpretationsspielraum, obwohl seine Bilder in bestem Sinne künstlerisch und leinwandtauglich sind.
Der Künstler lässt seine Figuren gerne mit der Umgebung verschmelzen. Besonders deutlich wird das unter Deck, in Abendstimmungen, eben in Situationen mit diffusem Licht. Andriveau setzt auf Hintergründe auf, lässt sie auch durchscheinen. Die Reduzierung führt zu einer sehr guten Räumlichkeit einerseits, aber führt auch zu einem Theatereffekt. Die Figuren werden wie Schauspieler durch Scheinwerfer unterschiedlicher Größe in das Blickfeld gezerrt. Ein lasierender, also durchscheinender Farbauftrag, erhöht nicht nur die Plastizität, sondern imitiert auch echte, auf Karton oder Leinwand aufgetragene Farben.
Eine großartige Fortsetzung, besonders für Freunde von Piratengeschichten. Der alte Geist von Hollywood-Klassikern, in den Mäntel und Degen geschwungen wurden, wird hier auf das Beste lebendig. Wer Spaß hat einer tollen Abenteuergeschichte, in starken Bildern umgesetzt, wird genau hier fündig. Eine Kenntnis des ersten Bandes ist kein Muss, aber empfehlenswert. 🙂
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