Das Mädchen ist auf dem Grund des Schachtes angekettet. Es betet, doch ihr Gott kann ihr nicht helfen. Ihr Peiniger oben am Rande des Schachts weiß dies ganz genau. Er genießt seine Macht, die er über das Kind besitzt, aber er zögert das Unvermeidliche nicht länger hinaus. Unter den Schmähungen des Folterknechts fließt immer schneller Wasser in den Schacht. Es ist nicht dieser Mord, der die Ermittler auf den Plan ruft, sondern der Meuchelmord am Herzog Milon von Plancy. Ein Zeuge hat die Tat gesehen und kann doch nur von vermummten Mördern berichten, die danach spurlos verschwanden.
Es ist Herbst im Jahre des Herrn 1174. Im Heiligen Land herrscht ein Ausnahmezustand. Immer wieder bekriegen sich christliche Krieger mit Muslimen, immer im Namen des Glaubens, hinter der Hand geht es allerdings nur um Macht und Vorherrschaft. Balduin IV. herrscht über die Christenheit, aber ist noch ein Kind und sein Anspruch auf den Thron ist nicht von allen anerkannt. Sein Erzieher und Lehrmeister, Wilhelm von Tyrus, erkennt in dem inzwischen 13jährigen einen herausragenden Menschen, trotz seiner jungen Jahre. Doch beschwerliche Zeiten kündigen sich bereits an: Balduin wurde mit der Lepra gestraft.
Die Zeit der Kreuzzüge besitzt einige höchst spannende Höhepunkte und dramatische Perioden. Die Herrschaft von Balduin IV. ist eine davon. Der aussätzige König muss sich nicht nur mit dem Feind unter der Führung von Saladin auseinandersetzen, vielmehr stehen ihm auch reichlich Feinde in den eigenen Reihen gegenüber. Eine geheimnisvolle Macht im Hintergrund arbeitet nicht nur am Niedergang Saladins, sie will ebenso den christlichen König stürzen.
Jean-Luc Istin nimmt sich dieser spannenden Epoche an, die nicht nur hier auf dem Papier von Gier, Wahnsinn und Verblendung strotzt. Es ist die Zeit der Assassinen, der Mörder des Alten vom Berge. Nicht nur der Glaube war ein Antriebsmittel dieser gedungenen Mörder, manchmal war es schlicht Geld. So lässt Istin diese Attentäter sogar glaubensunabhängig antreten. Ein Templer wird zum Auftraggeber, allerdings nicht ohne ähnlich wie einst Conan einen Beweis der Macht von Tulsa Doom erhielt, als eine seiner Anhängerinnen nur auf einen Wink hin in den Tod sprang. Bei Istin geschieht es mit der gleichen Beiläufigkeit.
Geschickt bedient sich Istin der Historie, über die zwar viel bekannt ist, die aber dennoch genügend Lücken aufweist, die wiederum mit eigenen Vorkommnissen gefüllt werden können. Istin webt ein Intrigengeflecht ein, das, vergleicht man es mit verbürgten Ereignissen vor und nach diesen Tagen, durchaus so stattgefunden haben könnte. Istin erzählt versiert, sehr durchdacht und spannend und beweist handwerkliches Können wie auch einen guten Instinkt, der für einen Erzähler sicherlich ebenso wichtig ist. Zweifelsohne ist er aber auch ein Erzähler, der die Themenbereiche kennt. Kreuzzüge, Mittelalter sind schon lange beliebte Themen, das Spiel mit dem christlichen Glauben, einem fünften Evangelium hat erst in jüngerer Zeit ein breiteres Segment in Romanen und Comics eingenommen.
Wilhelm von Tyrus, der Lehrmeister von Balduin IV., präsentiert sich zuerst wie eine jener Gestalten, die an einen Inquisitor erinnern: Hart, sehr konservativ, gnadenlos, immer auf das Beste für die Kirche bedacht. Dieses Bild wird von Istin sehr bald weggewischt. Wilhelm kehrt nichts unter den Teppich, er ist auf seine Art menschlich und wandelt sich an der Seite Balduins nicht nur zu einem Politiker jener Zeit, eher schon zu einem mittelalterlichen Ermittler. Plötzlich gibt es für den Leser nicht nur Intrigen und Rätsel, sondern auch Mordfälle zu begleiten.
Künstlerisch trifft Thimothee Montaigne mit seinen düsteren Bildern ins Schwarze. Gut gesetzte schwarze Tuschelinien, zwischen schnellem Strich und perfekt gezogener Linie angesiedelt, geben schwere Bilder wieder, kernig, handfest. Damit bewegt sich Montaigne in einer stilistischen Richtung, die an einen Phillippe Xavier denken lässt (Kreuzzug), der sich thematisch bereits in einer ähnlichen Zeitspanne bewegte. Auch Alberto Varanda (Die Legende der Drachenritter) kann als Vergleich herangezogen werden. So bewegt sich Montaigne auf einer Ebene mit Künstlern, die in einem möglichst realistischen Stil zeichnen. Hier wird Comic-Kino produziert. Das Auge soll gebannt werden.
Wer allein die Eingangsszene betrachtet, in der ein Kind Opfer eines wahnsinnigen Mörders wird, der könnte glauben, in einem Film von David Fincher gelandet zu sein, bevor es einen radikalen Schwenk hin zum Namen der Rose gibt. An den Zeichnungen gibt es nichts zu bemängeln, einzig könnte Elodie Jacquemoire vorgeworfen werden, ein wenig zu verschwenderisch mit einigen Computerkolorierungspinseln vorgegangen zu sein.
Mittelalter-Fans aufgepasst: Wer sich eine Mischung aus Der Name der Rose und Königreich der Himmel vorstellen kann, immer schon vom Thema der Kreuzzüge fasziniert war, die neueren Geschichten um Verschwörungen innerhalb der Kirche mag, der wird hier genau richtig sein. Mit Thimothee Montaigne wurde genau der richtige Künstler für diese Kulisse gefunden. 🙂
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