Sonntag, 10. September 2023
Man stelle sich vor: Da gibt es eine Maschinerie, die darüber entscheidet, ob ein Buch bestehen bleibt. Oder ob es in der Versenkung verschwindet. Auf Nimmerwiedersehen. Selbst sogenannte gute Bücher. Inhaltlich wichtige Bücher. Sobald die Leserzahlen in den Keller rauschen, ist es futsch. Nicht bloß bei Romanen. Auch bei Sachbüchern. Sogar bei Comics. Dann stelle man sich vor: Es existiert eine Gruppe ungewöhnlicher Individuen, die es sich auf die Fahne geschrieben haben, solche Bücher zu retten. Eine Gruppe, die sich selbst PLOT HOLES nennt. Eine Gruppe, die aus eigener Erfahrung weiß, was es heißt, Bestandteil eines solchens Buches zu sein. Oder eines Comics. Weil sie aus solchen Büchern gerettet wurden. Oder aus Comics.
So wie CLIFF WIESELWITZ, der seinen Nachnamen in INKSLAYER geändert hat. CLIFF ist Comiczeichner, leider kein sehr erfolgreicher. Erst vor kurzem ist seine Frau gestorben. Seelisch ist CLIFF am Boden. Beruflich ist da nichts, um von dem Verlust wenigstens abzulenken. Da steht eines Tages eine ältere, höchst agile Dame namens ED vor seiner Wohnungstür. ED prophezeit ihm das Ende SEINER Serie und offenbart ihm so, dass er nichts weiter als eine erfundene Figur ist. Klar, die Welt von CLIFF, dem selbst ernannten INKSLAYER, bricht vollends zusammen.
Dabei ist er nicht der einzige erfundene Charakter, der fortan ein eigenes Leben ohne Fremdbestimmung führen darf. Die PLOT HOLES stammen aus den unterschiedlichsten Geschichten und verschiedensten Genres. Teilweise, wie der kleine KEVIN, sind sie uralt. Oder nicht einmal menschlich. Was auf den überwiegenden Rest der Truppe zutrifft. Ja, SEAN MURPHY hat erneut seine Fantasie laufen lassen und eine GRAPHIC NOVEL erschaffen, Als Autor und Zeichner gleichermaßen entführt (das Wort passte selten besser als hier) er den Leser in eine Welt zwischen den Welten. Das ist letztlich größer als PHANTÁSIEN oder irgendwelche Comic-Universen, denn hier ist nicht einmal der Himmel das Limit.
Die Grundidee klingt zuerst seltsam, aber Dank vieler kleiner Hommagen, Figuren, die einem bekannt erscheinen, ohne es tatsächlich zu sein, darf man sich sogleich wie angekommen fühlen. Sei es FANTASY oder MANGA, HORROR oder SCIENCE FICTION, ernstes SACHBUCH über historische Ereignisse oder Architektur, thematisch finden sich irre viele Fingerzeige, die nicht nur Verbeugung vor der menschlichen Kreativität als solcher sind, sondern auch zeigt, wie weit die Lust am Fabulieren zurückreicht und wie sehr die Menschen ihre ABENTEUER und ihre HELDEN lieben.
Deshalb dürfen sich die Leser auch auf Auftritte von ROBIN HOOD, riesengroße MECHS oder MOBY DICK freuen. Und man muss nicht einmal suchen, um ein rotes Lichtschwert zu entdecken. Da wird seitens SEAN MURPHY von alt bis brandneu nichts ausgelassen. Gleichzeitig wird deutlich, wie ähnlich sich die Grundkonzepte sind und wie verzweigt eine Geschichte dennoch ausufern kann und mit den Epochen wächst.
SEAN MURPHY, der hierzulande mit seinen Veröffentlichungen von TOKYO GHOST und BATMAN: DER WEISSE RITTER auf sich aufmerksam machen konnte, zeichnet den vorliegenden Sammelband von A-Z. Grafisch ist das (wie er es bisher auch handhabte) sehr zart, auf magisch anziehende Weise zerbrechlich. Dünnste Outlines bilden fein ausgearbeitete Charaktere ab. Und damit erschöpft es sich nicht. SEAN MURPHY gibt einem Charakter die Fähigkeit zur Gestaltwandlung. Dank der Koloristen DAVE STEWART und MATT HOLLINGSWORTH ballern die Bilder richtig ins Auge, leichter Zeichentrickeffekt inklusive.
Daneben ist die Erzählung modern, trotz diverser nostalgischer, manchmal sentimentaler Anflüge. Krankheit, Liebe, sexuelle Ausrichtung, Menschen im Krieg, Zeiten im Wandel, allesamt große Themen, mal eben so mitgenommen. Ganz schnell ist der Leser an der Seite der Figuren, die ihr Innerstes im Laufe der Geschichte nach außen kehren. Selbst (ehemalige) Schurken geben sich so der Angreifbarkeit preis.
Mehr von SEAN MURPHY. Das ist ein echter Stern am Comic-Himmel. Hier lässt ein Künstler die Zügel locker, ohne zu entgleisen und zu abgedreht zu werden. Nachvollziehbare Verrücktheiten, grafisch erstklassig umgesetzt, spannend, gefühlvoll erzählt. Das darf Comic, das soll Comic, hier kann Comic, was andere Medien nicht schaffen! Toll! 🙂
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Freitag, 01. September 2023
Am Anfang stehen MORDE. Indianer sind den weißen Männern, die an diesem Tag die Blockhütte von BAKER, dem Händler, betreten, verhasst. BAKER kann die Eskalation nicht verhindern. Schockiert und hilflos muss er alles mitansehen. BAKER bleibt mit den Toten allein zurück, die Nachricht über das sinnlose Massaker findet jedoch rasch seinen Weg zu HÄUPTLING LOGAN. Seine Mutter und seine Geschwister sind unter den Mordopfern. Und mehr noch. Die kleine Schwester war die Frau von CAPTAIN JOHN GIBSON, einem weiteren Händler. HÄUPTLING LOGAN will diese Tat nicht ungesühnt lassen. Viele Menschen, auf beiden Seiten, scheinen nur auf einen Anlass für einen KRIEG gewartet zu haben. Bald schon gibt es die nächsten Toten.
HUGO PRATT nimmt den Leser mit in nahezu vergessene Kriegszeiten. Vor den Ereignissen des WILDEN WESTENS, dem AMERIKANISCHEN BÜRGERKRIEG, den späteren INDIANERKRIEGEN geraten die Schlachten und Kämpfe des FRANZOSEN- UND INDIANERKRIEGES beinahe in den Hintergrund. Die vorliegende Geschichte setzt rund zehn Jahre nach diesen Auseinandersetzungen an. Viele Wunden wurden geschlagen, kaum eine scheint richtig verheilt, obwohl Übereinkünfte geschlossen worden sind. Willkommen auf dem NORDAMERIKANISCHEN KONTINENT, in VIRGINIA im Jahre 1774.
Verschiedene Stämme, SHAWNEE, DELAWARE und MENGWE, lavieren sich zwischen den Macht- und Landesansprüchen der weißen Briten hindurch und es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie aufgeben müssen. Ein Auslöser wie die Morde heizt die Gemüter an, das titelgebende FORT WHEELING wird infolge der Gefahr um 400 Soldaten verstärkt. Vor der Kühle dieser Kriegsplanungen geht HUGO PRATT ins Detail und präsentiert einfache Menschen, Charaktere, die von diesen Ereignissen mitgerissen werden, aber auch solche, die verlorene, teils hasserfüllte Seelen sind. Weiße, die Indianer hassen, des Kriegs wegen, den sie miterleben mussten. Oder Weiße, die ihre Familien verloren und nun durch die Wildnis streifen, stets auf der Suche nach Ureinwohnern, die sie töten und skalpieren können. Wie LEW WETZEL und JONATHAN ZANE ohne jegliche Gewissensbisse tun.
Auf der anderen Seite sieht es kaum anders aus. Das Eingeständnis mancher Stämme, für Franzosen oder Briten zu kämpfen, hat Fronten gezogen, die lange nachhallen, selbst als die Franzosen längst aus dem Territorium verschwunden sind. In nebligen Landstrichen lauern sie den soldatischen Patrouillen auf, erschießen, wen sie treffen können. So viele wie nur irgend möglich. Selten nur kommen traditionelle Waffen zum Einsatz. Längst haben sich auch die amerikanischen Ureinwohner an Pistolen und Gewehre gewöhnt. HUGO PRATT zeigt in dieser packenden Erzählung, wie ein fallender Dominostein eine Kette von Ereignissen in Gang setzt, sich diese Kette immer weiter verzweigt und sich niemand mehr den Fehden entziehen kann.
Dazwischen gibt es Charaktere wie den jungen CHRISS KENTON, seinen Freund PATRICK FITZGERALD und das Mädchen MOHENA, die als Weiße bei den Indianern aufgewachsen sind. Liebe macht das Geflecht dieser drei jungen Leute gerade in diesen Zeit besonders kompliziert. Darüber hinaus kündigt sich bereits der nächste Krieg an, historisch weitaus bekannter: der AMERIKANISCHE UNABHÄNGIGKEITSKRIEG. Vorher schon ist man als Leser an die Seite von CHRISS KENTON gerückt, der nichts mit diesem Krieg, mit keinem Krieg zu tun haben will, eigentlich nur Frieden möchte und sogar versucht, den Dingen einen neuen Lauf zu geben. Es will nichts helfen. Das ist die Tragödie in der Geschichte um FORT WHEELING.
Die Spannung einer dramatischen Erzählung im besten Sinne ist das zweite große Element in FORT WHEELING. HUGO PRATT wandelt auf den Spuren eines JAMES FENIMORE COOPER. Seine einfache, aber eindringliche Art des Zeichnens zieht die Erzählung voran, seine Konzentration auf wenige Eindrücke geben Raum für den Moment und die Erweiterung durch das Kopfkino des Lesers. Das setzt auf jeden Fall ein. Verschleiert HUGO PRATT auch so manche Brutalität, sie ist dennoch vorhanden, ungeachtet der Schatten, die darüber liegen oder der Entfernung, die Details unmöglich machen.
Ein Klassiker. Und gleichzeitig eine Geschichtslektion, die auf leichten erzählerischen Füßen daher kommt. HUGO PRATT behandelt ein dunkles, wenig ruhmreiches Kapitel für Amerikaner und Briten mit objektivem Blick auf das wahre Geschehen, ohne die Unterhaltung für den Leser außer Acht zu lassen. Drama, Kampf, Freundschaft, Liebe, ein wenig Coming of age in einer für heutige Verhältnisse unbekannten Welt (zumindest, was die westliche Hälfte anbelangt). HUGO PRATT schafft es, dass man als Leser einfach wissen muss, was weiter mit CHRISS KENTON geschieht. Daumen hoch! 🙂
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Oder bei Schreiber und Leser.
Die Wölfe kommen. LADY GRAVESTONE, ihr kleiner Sohn JOHN und ihr Diener TIBBETT sind auf der Flucht durch den tiefen Schnee. Es ist Nacht, der Sturm rauscht, die kleine Kirche neben dem Friedhof verspricht kein sicherer Unterschlupf zu sein. Das Wolfsrudel kommt näher, kreist sie ein, eine Tragödie bahnt sich. JOHN wird diese Nacht nie vergessen! Viele Jahre später treibt sich JOHN GRAVESTONE wieder nächtens herum. In der Ferne heult ein WERWOLF. Die dämonische Kreatur bietet sich als Beute an. Es ist in mehrfachem Sinne lohnenswert, das Biest zur Strecke zu bringen. Rasch ist die BESTIE gestellt, doch auf die Jäger wartet eine Überraschung.
LORD GRAVESTONE ist ein klassisches HORROR-GRUSEL-ABENTEUER im STILE des ORIGINALS von BRAM STOKER (DRACULA). Angesiedelt einhundert Jahre vor jener viktorianischen Ära wird das Leben der GRAVESTONES beleuchtet, einer Familie, die sich die Bekämpfung des Bösen auf die Fahne geschrieben hat. Zwei Brüder sind Priester geworden. Der eine dient der katholischen Kirche, der andere der anglikanischen Kirche. Da in letzterer die Priester heiraten und eine Familie gründen dürfen, ist der Fortbestand der Familie gesichert, denn mit dem kleinen JOHN wächst die nächste Generation heran.
Freilich genügen zwei Dämonenjäger alleine nicht, um die Mächte der Finsternis in Schach zu halten. Deshalb gibt es unterschiedliche Organisationen, ein Netzwerk von Gotteskriegern, aber auch die Rekrutierung von Nachwuchs, Schülern, die akribisch auf ihre lebensgefährlichen Aufgaben vorbereitet werden. Das allein wäre schon spannend genug und erzählenswert, stellte SZENARIST JÉRÔME LE GRIS nicht die Familie GRAVESTONE in den Mittelpunkt des Geschehens. So erreicht er ein Höchstmaß an Anknüpfungspunkten über verschiedene Charaktere. Da ist vom jugendlichen Überschwang bis zum sorgenvollen und erfahrungsreichen Mentor alles dabei. Wer einigermaßen gruselfest oder Horror-Fan ist, wird sicherlich Verweise entdecken. Nicht nur an das Buch-Orignal DRACULA, auch an seine zahlreichen Interpretationen.
Das schmälert das Vergnügen keineswegs, denn vor der Fülle all dieser Abenteuer besitzt LORD GRAVESTONE sehr viele eigene Anteile. Im besonderen Kern wird nicht bloß auf Grusel und die notwendigen Vampirbrutalitäten geachtet, sondern ebenfalls auf das Quäntchen Romantik und Erotik. Diese Beigaben hatte bereits das Original, ist doch der Akt des Blutsaugens im übertragenen Sinne ein sexueller Akt (Und wurde bei genauer Betrachtung in seinen zahlreichen Umsetzungen auch so gewertet; wer die jeweiligen Reaktionen der Opfer sieht, kann das bestätigen. Erst in jüngeren Jahren ändert sich diese Bild zugunsten eines menschlichen Opfers, das einen ähnlichen Rang einnimmt wie Schlachtvieh für uns Menschen.)
Hier wandelt sich das Bild des blutrünstigen Vampirs teilweise, indem die Verwandlung in einen Blutsauger in einen langwierigen Prozess mündet. Nicht, wer einfach gebissen wird, verwanelt sich, sondern wer den ROTEN KUSS empfängt, kann – selbst dann muss es nicht – zum Vampir werden. Zwei der Hauptakteure auf der Seite der dämonischen Widersacher sind zudem einander in Liebe zugetan. Neben körperlicher Begierde stellt Zeichner und Kolorist NICOLAS SINER diese Verbundenheit sehr schön dar.
NICOLAS SINER konnte hierzulande bereits mit der Serie HORACIO D’ALBA auffallen. Hier konnte er bereits in einem Dreiteiler mit den Bildern zu einem historischen Szenario punkten. LORD GRAVESTONE, angesiedelt zu Beginn des 19. Jahrhunderts und später in dessen 1820er Jahren, zeigt eine Epoche, in der Militär und Waffentechnik der Zivilisation voranschreiten, der Rest aber noch nicht wirklich an der neuen Geschwindigkeit teilnimmt. Alte Architektur, alte Transportmöglichkeiten, alte Ansichten von Ehre in einer sich verändernden Epoche. Auch letzeres findet eine grafische Umsetzung. Wenn Ehre verletzt wird, konnte diese Verletzung nach Meinung manches Geschädigten einzig mit einem Akt der Gewalt gesühnt werden. In realistischen Bildern arbeitet NICOLAS SINER seine Vampirversionen ein, die über Fähigkeiten verfügen, solchen, die man als Horror-Fan kennt und solchen, die die Detailfülle der Monströsitäten erweitern.
Eine starke Schauermähr! LORD GRAVESTONE, angelegt als Trilogie, bietet mit seinem Auftakt ein spannend durcherzähltes Horrormärchen mit ein paar schaurig schönen Charakteren. Wer es im Gruselgenre eher klassisch mag, findet hier die genau richtige Lektüre – mit einigen modernisierten Anpassungen versehen. Toll illustriert von NICOLAS SINER! 🙂
LORD GRAVESTONE 1, DER ROTE KUSS: Bei Amazon bestellen.