Zwei Männer im Schnee. Sie finden ein Gebäude, offensichtlich leer, verwaist. Das Inventar ist noch vorhanden. Es wird geplündert, natürlich nur die wirklich wertvollen Sachen. Man sieht zu, dass man Land gewinnt. Bevor einem noch jemand in die Quere kommt. Der alte Lieferwagen bleibt nicht unbemerkt. Ein Verfolger taucht auf. Aus einem Waldstück wird das Feuer aus automatischen Gewehren auf SLAVA und DIMITRI eröffnet. Der kleine Raubzug wird nun doch nervenaufreibender als erwartet …
Als die Sowjetunion zerbricht, verabschiedet sich nicht nur ein System. Auch viele Russen müssen sich von einer Ordnung verabschieden, die zumindest Beständigkeit versprochen hat. Einige Russen sehen im Zusammenbruch aber auch Chancen, um ihrer Armut zu entkommen. In den Ruinen des Sozialismus gibt es genug, was sich gewinnbringend verkaufen lässt.
PIERRE-HENRY GOMONT nimmt den Leser mit in jene Tage der Ära JELZIN, in den 1990er Jahren, als von westlicher Seite bloß mit großen Augen in Richtung Osten geschaut wurde. Innerhalb dieses Ostens fand jedoch eine brachiale Umorientierung statt. An der Seite zweier ungleicher Männer, SLAVA SEGALOW und DIMITRI LAWRIN, lernen wir eine Welt kennen, die mit ihrer Veränderung hadert. So, wie es Gesellschaften stets tun, wenn sich folgenschwere und unumkehrbare Veränderungen einmischen.
Während SLAVA von einem Leben als Künstler Abschied nimmt, macht LAWRIN eigentlich genau da weiter, wo er bereits als Jugendlicher angefangen hat. War er einst ein Prügelknabe, wurde er schnell zu demjenigen, der das hatte, was andere brauchten. Betritt LAWRIN nun ein (scheinbar) verlassenes Prunkgebäude der Sowjetunion sieht er rasch, welche Bestandteile sich gut zu Geld machen lassen. Aus dem einstigen Weltreich ist ein Ramschladen geworden. Und eigentlich könnte von da ab alles ganz toll laufen (wenigstens für SLAVA und LAWRIN), gäbe es nicht ein paar Begegnungen, die derartige Pläne unterlaufen.
PIERRE-HENRY GOMONT zeigt in seiner Graphic Novel unterschiedliche Charaktere, deren Auffassungen von einer Umwandlung der Gesellschaft stark voneinander abweichen. Da treffen die Vorstellungen eines Möchtegernturbokapitalisten auf die unverbüchliche russische Seele, fernab einer wie auch immer gearteten Ideologie, aus einem harten Lebensstil gefräst. SLAVA UND LAWRIN werden außerdem von NINA und ihrem Vater ausgebremst. Andere Begehrlichkeiten werden zum Thema, abseits von Geld und Ehrgeiz.
Geschichten entstehen nicht nur durch Charaktere, sondern auch durch Umstände. Der Zusammenbruch eines gesellschaftlichen Systems ist sehr speziell, und es lässt sich regelrecht darin eintauchen wie in einer völlig fremden Welt. PIERRE-HENRY GOMONTS Beschreibung hat Ähnlichkeit mit Nachkriegsszenarien, mit dem besonderen Unterschied, dass noch alles da ist. Nichts ist im eigentlichen Sinne zerstört. Trotzdem entsteht dieser Eindruck. PIERRE-HENRY GOMONT gelingt es, diese pessimistische auch resignierte Stimmung einzufangen. Aus der Sicht von SLAVA erzählt, wird die Situation immer gefährlicher, denn am Ende geht es schließlich ums Geld. Wer hat es, wer bekommt es, wer nicht?
PIERRE-HENRY GOMONT zeichnet, skizziert schnell, flüchtig, treffsicher. Er trifft die Charaktere, nicht bloß die Gesichter, nein, gleich die gesamte Figur. Das ist wichtig. Er trifft Haltung, Gestik, Blicke, Verhalten. Man will vielleicht zunächst über diese oder jene Figur lachen, bis man merkt, dass mancher handelnder Figur das Lachen vergeht. Der Tuschestrich ist wackelig, geschwungen, brüchig, als habe keine Zeit bis zum fertigen Bild verstreichen dürfen. Das Einfangen eines kurzen Moments, einer Szene, eines Lebensabschnitts, der schon fast vorbei ist, ehe er richtig erfasst werden kann. Was passt, denn für die Hauptcharaktere jagt die Zeit und so mancher bleibt auf der Strecke. Farblich beschränkt sich PIERRE-HENRY GOMONT (weitestgehend) auf Variationen von ROT oder BLAU, die Farben der russischen Flagge (neben WEISS).
DIE NEUEN RUSSEN ist ein Drama von PIERRE-HENRY GOMONT in Form einer Graphic Novel. Ein enger winterlicher Kosmos, in dem ein paar Charaktere einen Weg suchen, der sie in ein besseres Leben führt. Ein paar dieser Wege verheißen Hoffnung, andere sind traurig, wie vorbestimmt. Jegliche Anstrengung ist vergebens. Als Leser wünscht man SLAVA und DIMITRI sowie NINA nach kurzer Lesedauer alles erdenklich Gute. Man fiebert zwangsläufig mit, von der ersten bis zur letzten Seite. So, wie es sich für eine gute Geschichte gehört. 🙂
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