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Comic Blog


Freitag, 31. März 2023

DIE NEUEN RUSSEN 1 – NACH DEM FALL

Filed under: Graphic Novel — Michael um 15:42

DIE NEUEN RUSSEN 1 - NACH DEM FALLZwei Männer im Schnee. Sie finden ein Gebäude, offensichtlich leer, verwaist. Das Inventar ist noch vorhanden. Es wird geplündert, natürlich nur die wirklich wertvollen Sachen. Man sieht zu, dass man Land gewinnt. Bevor einem noch jemand in die Quere kommt. Der alte Lieferwagen bleibt nicht unbemerkt. Ein Verfolger taucht auf. Aus einem Waldstück wird das Feuer aus automatischen Gewehren auf SLAVA und DIMITRI eröffnet. Der kleine Raubzug wird nun doch nervenaufreibender als erwartet …

Als die Sowjetunion zerbricht, verabschiedet sich nicht nur ein System. Auch viele Russen müssen sich von einer Ordnung verabschieden, die zumindest Beständigkeit versprochen hat. Einige Russen sehen im Zusammenbruch aber auch Chancen, um ihrer Armut zu entkommen. In den Ruinen des Sozialismus gibt es genug, was sich gewinnbringend verkaufen lässt.

PIERRE-HENRY GOMONT nimmt den Leser mit in jene Tage der Ära JELZIN, in den 1990er Jahren, als von westlicher Seite bloß mit großen Augen in Richtung Osten geschaut wurde. Innerhalb dieses Ostens fand jedoch eine brachiale Umorientierung statt. An der Seite zweier ungleicher Männer, SLAVA SEGALOW und DIMITRI LAWRIN, lernen wir eine Welt kennen, die mit ihrer Veränderung hadert. So, wie es Gesellschaften stets tun, wenn sich folgenschwere und unumkehrbare Veränderungen einmischen.

Während SLAVA von einem Leben als Künstler Abschied nimmt, macht LAWRIN eigentlich genau da weiter, wo er bereits als Jugendlicher angefangen hat. War er einst ein Prügelknabe, wurde er schnell zu demjenigen, der das hatte, was andere brauchten. Betritt LAWRIN nun ein (scheinbar) verlassenes Prunkgebäude der Sowjetunion sieht er rasch, welche Bestandteile sich gut zu Geld machen lassen. Aus dem einstigen Weltreich ist ein Ramschladen geworden. Und eigentlich könnte von da ab alles ganz toll laufen (wenigstens für SLAVA und LAWRIN), gäbe es nicht ein paar Begegnungen, die derartige Pläne unterlaufen.

PIERRE-HENRY GOMONT zeigt in seiner Graphic Novel unterschiedliche Charaktere, deren Auffassungen von einer Umwandlung der Gesellschaft stark voneinander abweichen. Da treffen die Vorstellungen eines Möchtegernturbokapitalisten auf die unverbüchliche russische Seele, fernab einer wie auch immer gearteten Ideologie, aus einem harten Lebensstil gefräst. SLAVA UND LAWRIN werden außerdem von NINA und ihrem Vater ausgebremst. Andere Begehrlichkeiten werden zum Thema, abseits von Geld und Ehrgeiz.

Geschichten entstehen nicht nur durch Charaktere, sondern auch durch Umstände. Der Zusammenbruch eines gesellschaftlichen Systems ist sehr speziell, und es lässt sich regelrecht darin eintauchen wie in einer völlig fremden Welt. PIERRE-HENRY GOMONTS Beschreibung hat Ähnlichkeit mit Nachkriegsszenarien, mit dem besonderen Unterschied, dass noch alles da ist. Nichts ist im eigentlichen Sinne zerstört. Trotzdem entsteht dieser Eindruck. PIERRE-HENRY GOMONT gelingt es, diese pessimistische auch resignierte Stimmung einzufangen. Aus der Sicht von SLAVA erzählt, wird die Situation immer gefährlicher, denn am Ende geht es schließlich ums Geld. Wer hat es, wer bekommt es, wer nicht?

PIERRE-HENRY GOMONT zeichnet, skizziert schnell, flüchtig, treffsicher. Er trifft die Charaktere, nicht bloß die Gesichter, nein, gleich die gesamte Figur. Das ist wichtig. Er trifft Haltung, Gestik, Blicke, Verhalten. Man will vielleicht zunächst über diese oder jene Figur lachen, bis man merkt, dass mancher handelnder Figur das Lachen vergeht. Der Tuschestrich ist wackelig, geschwungen, brüchig, als habe keine Zeit bis zum fertigen Bild verstreichen dürfen. Das Einfangen eines kurzen Moments, einer Szene, eines Lebensabschnitts, der schon fast vorbei ist, ehe er richtig erfasst werden kann. Was passt, denn für die Hauptcharaktere jagt die Zeit und so mancher bleibt auf der Strecke. Farblich beschränkt sich PIERRE-HENRY GOMONT (weitestgehend) auf Variationen von ROT oder BLAU, die Farben der russischen Flagge (neben WEISS).

DIE NEUEN RUSSEN ist ein Drama von PIERRE-HENRY GOMONT in Form einer Graphic Novel. Ein enger winterlicher Kosmos, in dem ein paar Charaktere einen Weg suchen, der sie in ein besseres Leben führt. Ein paar dieser Wege verheißen Hoffnung, andere sind traurig, wie vorbestimmt. Jegliche Anstrengung ist vergebens. Als Leser wünscht man SLAVA und DIMITRI sowie NINA nach kurzer Lesedauer alles erdenklich Gute. Man fiebert zwangsläufig mit, von der ersten bis zur letzten Seite. So, wie es sich für eine gute Geschichte gehört. 🙂

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Samstag, 18. März 2023

SAGA 10

Filed under: SciFi — Michael um 19:45

SAGA 10Mutter werden ist nicht so schwer, Mutter sein dagegen schon schwieriger. Besonders schwer sogar, wenn die Elternteile aus gegensätzlichen kriegerischen Lagern stammen und der gemeinsame Sproß Hoffnung verheißt. Hoffnung, die offiziell nicht existieren darf und beiderseitig zum Abschuss freigegeben ist. Wer dauernd damit rechnen muss, gejagt und getötet zu werden, kann das übliche, eher ruhige, Familienleben nicht aufbauen. Und so ist die kleine Familie, die auf ungewöhnliche Weise sogar gewachsen ist, ständig auf der Flucht und auf der Hut …

Zurück in der SAGA. Drei Jahre hat es gedauert, bis nun endlich die Fortsetzung der Reihe vorliegt, nachdem der Leser mit einem äußerst traurigen Cliffhanger zurückgelassen wurde.

Wie die einführenden Worte schon andeuten: SAGA ist eine Familiegeschichte im SPACE-OPERA-Gewand. Und dank ihrer ungewöhnlichen Figuren ragt SAGA weit über das gewohnte Maß solcher Geschichten hinaus (was den langanhaltenden Erfolg der Reihe unter anderem begründen dürfte). Wer sich heute für Weltraumabenteuer interessiert und medial unterwegs ist, kennt reichlich außergewöhnliche Kreaturen aus Comic, Roman und natürlich Film. SAGA kann (und macht es) geht noch viele Schritte weiter. Weder den Ideen von Autor BRIAN K. VAUGHAN oder der Künstlerin FIONA STAPLES scheinen hier Grenzen gesetzt.

Wer die Bilder betrachtet (bereits das Titelbild), wird für den Begriff PATCHWORK-FAMILY eine völlig neue Definition finden müssen. BRIAN K. VAUGHAN und FIONA STAPLES lieben es für die gesamte Länge der Reihe, alles Erdenkbare auf die Spitze zu treiben. Äußerlichkeiten sind ein Mittel dafür. (Beispiel Titelbild: Eine humanoide Figur mit der Nase eines Koalas und ebenso entlehnten Puschelohren. Gleichzeitig kriegsversehrt und mit eine Prothese versehen, die so gar nicht zum restlichen muskulösen Äußeren des Charakters BOMBAZINE passt.) Aber sie verfahren gleichfalls mit gesellschaftlichen Umständen ziemlich anarchisch und krempeln Bedeutungen um (Stichwort: Kopfgeldjäger) oder präsentieren Beziehungen, die selbst langjährigen Comic-Fans neue Bilder vor Augen führen (die es so noch nicht zu sehen gab). All das lässt sich mit einem Wort übertiteln: Überraschungen.

Jemand, der keine Anstellung finden kann, der gesucht wird, nicht sesshaft ist, dem bleiben nicht viele Optionen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. ALANA, Mutter von HAZEL (einer sehr besonderen Tochter) und dem kleinen BROBOT (einem ebenso besonderen Waisenkind), verdingt sich als Schmugglerin. Offiziell. Inoffiziell ist ihre Tätigkeit noch eine kleine Spur gefährlicher. Die junge Frau ist tough, erfinderisch, risikobereit. Alles Eigenschaften, die bis zum Äußersten in der Geschichte gefordert werden. BRIAN K. VAUGHAN lässt sich einiges einfallen.

Aber das ist es nicht allein. Wie das Titelbild verrät (allen Sci-Fi-Fans, die bisher noch nicht mit SAGA in Berührung gekommen sind), gibt FIONA STAPLES ihren Figuren einen realistischen Look. Und obwohl sie sich an wirklich kuriose Gestalten heranwagt, funktioniert das Aussehen (meistens). Ein Highlight der vorliegenden 10. Folge von SAGA ist eine BAND mit dem Namen SHOWING BUNT (ein vorübergehend ausgewählter Name). Deren Mitglieder bestehen unter anderem aus einem Angehörigen des ROBOT-Volkes, einem menschgroßen FROSCH und einer Kreatur, die eine jugendlichere Verwandte von NOSFERATU sein könnte. Alle rufen sich jeweils nur mit den Bezeichnungen ihrer jeweilig gespielten Instrumente wie Schlagzeug, Gitarre oder Trommel.

Auf diese Art hält die Musik in SAGA Einzug. Die Band ist (bei allen Querelen) sympathisch, durchgeknallt (aber sympathisch) und insgesamt als Idee innovativ. Wenn sich jemals eine Truppe für ein Spin-Off qualifiziert hat, dann diese Band!

Einfach stark. Wer die Serie mag, dürfte hier in Band 10 sozusagen nach Hause kommen. Es ist spannend, aber auch dramatisch, weil einem die Charaktere, selbst die Neuen, schnell ans Herz wachsen. Das ist der Erzählung von BRIAN K. VAUGHAN geschuldet und den originellen und tollen Zeichnungen von FIONA STAPLES. Eine vorbildliche SPACE OPERA und grandiose Familiengeschichte. 🙂

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