DER KILLER mag alles mögliche sein, aber er ist ganz bestimmt kein Staatsdiener. Er weiß aber auch, wann es an der Zeit ist, leise zu treten und sein Fähnchen nach dem Wind zu drehen. Ganz besonders dann, wenn es heißt, einem unangenehmen Verfahren zu entgehen, dass ihn für den Rest seines Lebens ins Gefängnis bringen wird. Oder, falls die Angelegenheit seitens der Staatsmacht hinter den Kulissen geregelt wird, ihm eine Kugel in den Kopf einbringt. So nimmt er notgedrungen an, als er von französischen Auslandsgeheimdienst in Patagonien, in Südamerika, aufgespürt und somit zwangsverpflichtet wird. Ein Job zur Tarnung seiner wahren Identität bringt ihn nach LE HAVRE, Frankreich. Zusammen mit zwei Kollegen soll er sich eines Problems annehmen.
Unter dem Obertitel SECRET AGENDA startet ein neuer Zyklus um den KILLER. GEZIELTE PRÄVENTION lautet der Untertitel des ersten Bandes. Zurückgekehrt ins Heimatland verbringt DER KILLER seine Tage in einem Großraumbüro, versucht sich unauffällig zu verhalten. Allerdings verkehrt sich Unauffälligkeit mitunter ins Gegenteil. Jemand, der bewusst den Außenseiter mimt, weckt doch früher oder später das Interesse anderer. DER KILLER will (und kann) es sich nicht eingestehen, dass sein Gespür bei all seinen philosophischen Betrachtungen über die menschliche Natur nur rudimentär ausgeprägt ist und er mehr das Verhalten anderer nachahmt, als wirklich innerlich von ihm durchdrungen zu sein. Dabei ist er kein echter Soziopath (mehr), er ist allenfalls an einem einschneidenden Punkt seiner Entwicklung steckengeblieben.
MATZ, der Autor, zeigt keinen Proleten, der mit einer Knarre durch die Gegend läuft und Menschen abknallt. Das Profil hätte sich bald erschöpft. DER KILLER ist ein Philosoph, ohne es recht zu bemerken. Ein Analyst menschlicher Verhaltensweisen, gesellschaftlicher Strukturen. Wenn jemand, der darauf aus ist, einen anderen Menschen zu töten, das Ziel womöglich wochenlang observiert, um den richtigen Moment für die Tat abzupassen, hat er reichlich Gelegenheit, Studien anzustellen. Das mag bei der Vorbereitung des Mordanschlags und des reibungslosen Rückzugs hilfreich sein. Aber es führt, wie beim KILLER, zu einer sehr sezierenden Ansicht bei allem und jedem. Egal welcher Bereich des Lebens betroffen ist, kaum etwas ist dabei, was Bewunderung oder wenigstens Gnade vor dem schneidenden Intellekt des KILLERS findet. Denn dumm ist DER KILLER keinesfalls. Und so hat er auch herausgefunden, dass ein Mensch das tun sollte, in dem er (oder sie) wirklich gut ist. Bei ihm ist es das Töten.
MATZ bedient keine leichten Themen. Aber er erzählt es mit leichter Hand im Stile klassischer (französischer) Gangsterszenarien. Wer die mag, alte mit einem ALAIN DELON, einem LINO VENTURA, neuere wie DER UNBESTECHLICHE mit JEAN DUJARDIN. Serien wie MARSEILLE mit GÉRARD DEPARDIEU arbeiten mit einer ähnlichen Stimmung. Ein filmischer Vergleich ist wegen der Erzählweise passend (auch wegen der Erzählweise aus dem Off, die MATZ hier verwendet). Wer einen MAIGRET von GEORGES SIMENON sucht, wird hier nicht fündig. Was aber sicherlich beide gemeinsam haben, ist eine treffsichere Beschreibung des Milieus, in dem sich die Akteure bewegen.
Die Geschichte bewegt sich in LE HAVRE. Eine Hafenstadt folgt noch einmal ganz anderen Gesetzmäßigkeiten als eine Stadt, die kein Drehkreuz für internationalen Warenverkehr ist und so weniger Möglichkeiten für die Verschiebung illegaler Güter bietet. Ein für Außenstehende undurchsichtiges Gewimmel sorgt bei dunklen Machenschaften für eine gute Deckung. An der Seite des KILLERS erhält der erhält der Leser Einblick in diese Halbwelt und die Verstrickungen mit der örtlichen Politik. Es ist ein wenig skurril, wie hier Verbrecher auf Verbrecher gehetzt werden, sozusagen als GEZIELTE PRÄVENTION. So hat man in soldatischen Kreisen seinen eigenen, verschleiernden Beamten-Slang entworfen. Benutzerfreundlich, damit das Geschäft nicht so dreckig klingt.
LUC JACAMON zeichnet weiter an der Erfolgsgeschichte des KILLERS, weiterhin sehr realistisch. Aber auffallend ist DER KILLER selbst. Gegenüber anderen Charakteren ist er eine regelrechte blasse Fassade. Ihn ein Dutzendgesicht zu nennen, wäre noch übertrieben. DER KILLER ist die ideale Leinwand, um sich an seine Seite zu denken, eine Projektionsfläche. Die Augen gleichzeitig hinter der Brille verborgen, bleibt der nötige Abstand gewahrt. Gute Mörder funktionieren, wenn der Leser (oder Zuschauer) sich mit ihnen identifizieren kann. Das klappte sogar bei HANNIBAL LECTOR (obwohl er ein Kannibale war) und das funktioniert erst recht bei einer Figur wie dem KILLER, der sein Handeln mit einer Unmenge von Ansichten von Moral und Unmoral zwar nicht unbedingt rechtfertigt, aber immerhin untermauert.
Darüber hinaus bleibt LUC JACAMON in seinen Bildaufbauten filmisch, geradeheraus. Er experimentiert nicht und das ist gut so, denn es entsteht ein halbdokumentarischer, sehr ernsthafter Stil, der dem Leser ein wenig zurückstößt. Wer allzu große Sympathien für den KILLER entwickelt, darf wieder Abstand nehmen lernen. Auch das ist gut so.
Keine Effekthascherei, obwohl ein Leser, der noch nicht mit dem KILLER vertraut ist, dies vermuten könnte. Ein kühl erzähltes Szenario, in auf Realismus bedachten, atmosphärisch ebenso kühl gehaltetenen Bildern. Fans des KILLERs kommen sofort wieder auf ihre Kosten, Neueinsteiger werden mit diesem Zyklus ebenfalls gut bedient, sollten sich aber den bisherigen Werdegang des KILLERS trotzdem nicht entgehen lassen. 🙂
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