George führt ein gemütliches Leben in Selby, wo jeder jeden kennt. Die Leute sind sehr zufrieden mit ihm und seiner Arbeit. George hat ein Händchen für Autos. Seine Reparaturwerkstatt läuft gut. Seine Frau ist ein Schatz, sein Schwiegervater ist ein guter Freund. Alles wäre in Ordnung, gäbe es nicht immer noch diese Nachwirkungen von der Gehirnoperation. Das kleine Städtchen Selby im Bundesstaat Pennsylvania ist scheinbar alles, was George kennt. Mit der Operation sind viele Eindrücke und Erinnerungen einfach verschwunden. Sein Schwiegervater ist ebenfalls sein behandelnder Arzt. Der Freund macht ihm Mut. Dennoch stimmt es etwas nicht. George weiß es instinktiv …
Thriller in der amerikanischen Kleinstadt. Die vermeintliche Idylle hat schon so manchen Autor inspiriert und ist im Comic eher seltener zu finden, obwohl ein Blick hinter die Fassade dort so viel zu bieten hat. Hier gehen Serge Le Tendre und Rodolphe diesen Weg. Le Tendre, hierzulande bekannt für seine Arbeiten an Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit oder Golias, hat ein breites Themenspektrum bereits mehr als nur unter Beweis gestellt. Sein Gang in Richtung Thriller ist eher ungewöhnlich, zeigt aber auch, dass die Zutaten einer Geschichte, ganz gleich welchen Genres, sich stets sehr ähneln. Rodolphe, als Co-Autor, hat mit Le Tendre die Anlage ausgeklügelter Szenarien gemeinsam. Der Leser kennt ihn hier bereits durch seine Arbeiten an Kenya und Trent.
Mister George muss man mögen. Die Hauptfigur der beiden Szenaristen ist durch und durch sympathisch. Mister George wähnt sich selbst als Glückspilz, weil er trotz seines Schicksals, einem Teilverlust seines Gedächtnisses, in guter Hut ist. Anders als andere Charaktere aus Comic, Literatur und Film geschieht auch nichts Dramatisches, weshalb er sich über eine mögliche Vergangenheit aufregen müsste. Nein, die Zweifel kommen hier schleichend. Der Leser weiß etwas mehr als Mister George, dennoch muss er angesichts der Charaktereigenschaften zweifeln, ob die Informationen wirklich stimmen. Als Comic-Partner bekommt der Leser dazu die Figur der Journalistin Jennifer Lee beiseite gestellt, die damit beginnt, die Puzzleteile zusammenzusetzen.
Hugues Labiano, Zeichner, gibt der amerikanischen Kleinstadt ein Gesicht. Mister George selbst hat einen gewissen indianischen Einschlag. In den übrigen Figuren finden sich Individualität und lebendige Merkmale. Die Strichführung ist zart. Labiano zeigte zuvor schon mit Dixie Road, wie sehr er es versteht, ein amerikanisches Ambiente auf Comic-Seiten zu bannen. In Selby, dem Ur-Typus einer Kleinstadt im Ostküstenstaat Pennsylvania, ist das Auftauchen eines fremden Wagens ein Ereignis. Verkehrsstaus kennt man hier nicht. Selby wirkt wie ein Open-Air-Museum uramerikanischer Lebensart. Zur Komplettierung der perfekten Idylle gesellt sich noch das rotgoldene Blattwerk eines Indian Summer.
Frauenpower aus der Kleinstadt. Mit Jennifer Lee tritt eine journalistische Schnüfflerin auf, äußerlich sehr modern, tough, ausgestattet mit dem Rauchverhalten eines 50er Jahre Macho-Detektivs. Wer in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts einen amerikanischen Film im Kino sah, stieß zwangsläufig auf einen VW Käfer (manchmal auch immer wieder auf denselben, weil dieser im Kreis zu fahren schien oder an den unmöglichsten Stellen immer aufs Neue geparkt wurde). Lees fahrbarer Untersatz, eben ein VW-Käfer, wirkt wie eine Reminiszenz vor dem Hintergrund des Kleinstadt-Flairs. Und es passt zu einer Atmosphäre, die den Leser nicht mit Action, sondern mit der kontinuierlichen Entblätterung von Geheimnissen voran zieht.
Der erste von zwei Teilen, sehr schön von Serge Le Tendre und Rodolphe aufbereitet, sehr nah an den beiden Hauptfiguren inszeniert, gefühlvoll von Hugues Labiano gezeichnet. Eine schöne Thrillerüberraschung, endlich auf dem deutschen Markt. 🙂
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