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Comic Blog


Mittwoch, 21. Oktober 2015

ELOI

Filed under: Abenteuer — Michael um 17:53

ELOIDie Eingeborenen haben die Fremden aus Europa in jene Höhlen geführt, die für sie nichts anderes als Heiligtümer sind. Die Totenschädel in den Felsnischen jagen den weißen Forschern einen höllischen Schrecken ein. Sie sind froh, als sie endlich der Dunkelheit entkommen und ins Dorf ihrer Gastgeber zurückkehren können. Doch die Atmosphäre ist vergiftet. Die Angst vor den Eingeborenen ist gewachsen. In Gedanken malen sich die Reisenden aus, wie die Eingeborenen ihren kannibalischen Neigungen nachgehen. Ein Gottesdienst verheißt keinen Trost. Der nachfolgende Regen, ein regelrechter Wolkenbruch verdüstert das Land und nährt die Weltuntergangsstimmung der Franzosen. Jeder will nur noch abreisen. Jeder? Nein, nicht jeder. Pierre Delaunay ist bereit, sich über seine Ängste zugunsten der Wissenschaft hinwegzusetzen.

Wissenschaft. Wie stark ist ihr Einfluss auf die Menschlichkeit? Welchem Stellenwert ist der Ehrgeiz zuzordnen? Welchen Wert hat der Mensch, wenn er nicht als solcher wahrgenommen wird? Es sind eine Menge Fragen, die die beiden Autoren, Younn Loucard und Florent Grouazel (gleichzeitig als Zeichner tätig), hier stellen. Es sind unangenehme Fragen, die nur deshalb einen bitteren Beigeschmack haben, weil viele von ihnen auch heute noch nicht geklärt sind. Die vorliegende Geschichte beginnt 1837 an einer fernen Küste von Neukaledonien.

Neukaledonien. Wer damals, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einem Schiff nach Neukaledonien reiste, hatte sich einen Punkt auf dem Globus ausgesucht, der kaum weiter weg von Frankreich sein konnte als dieser Flecken Erde. Hierher, in eine Wasserwüste östlich von Australien, hat es die französische Fregatte La Renommee verschlagen. Der Naturforscher Pierre Delaunay ist fasziniert von der Kultur der Kanaken, wie sie hier von den Forschungsreisenden genannt werden. Allein hat er sich aufgemacht, um der erste europäische Zeuge einer kannibalischen Zeremonie zu werden. Er verirrt sich im Dschungel. Seine Schiffskameraden machen sich große Sorgen, doch der Wissenschaftler findet wieder zurück zum Basislager.

Für den europäischen Geschmack ist Kannibalismus nicht nur archaisch, er ist auch höchst verabscheuungswürdig. Ganz gleich, wie groß das wissenschaftliche Interesse an fremden Kulturen sein mag. Ganz gleich, wie sehr es der Forschung dient. Entsprechend negativ fällt die Reaktion aus, als Delaunay einen der Eingeborenen auf die Heimreise nach Frankreich mitnehmen will. Als Leser, moderner Mensch, wird man von den Reaktionen der Schiffsbesatzung abgestoßen, wenn man mitverfolgt, wie sehr ELOI, so der Name, den er von den europäischen Eindringlingen bekommen hat, zu Spielball der Leute an Bord wird. Letztlich sind nicht einmal die, die ihn in Schutz nehmen, schuldlos, ist er doch auf Betreiben auch jener mit auf diese Reise genommen worden.

Younn Loucard und Florent Grouazel entwerfen einen Mikrokosmos, in dem unterschiedlichste Emotionen und Ansichten auf einen Fremden einprasseln, der nicht fähig ist, sich gegen seine Lage zu wehren. ELOI war glücklich und zufrieden in seiner Heimat, dort, wo er verstand, was um ihn herum vorging. An Bord der Fregatte macht man sich sogar über sein Unvermögen lustig, nicht sofort den Gebrauch von Messer und Gabel zu verstehen. In der ersten Hälfte erwartet man als Leser vieles von jenem Verhalten, das sich hier nach und nach offenbart. Dabei spielt es keine Rolle, in welcher gesellschaftlichen Schicht sich bewegt. Sobald er jemandem in die Quere kommt, nur den Platz streitig macht, ohne sich dessen bewusst zu sein, liegt Ärger in der Luft.

Viel schlimmer wird es in der zweiten Hälfte. Und unerwartet. Zeichner Florent Grouazel zeichnet mit einem dokumentarischen Stil. Mit schnellen Strichen entstehen Charaktere mit gutem Wiedererkennungswert. Ein Mittelblau schattiert die Szenen, ein etwas helleres bringt Licht ins Dunkel. Die Atmosphäre wird auf Dauer durch diese Kolorierung immer bedrohlicher. In der zweiten Hälfte beginnt ELOI sich in die Mannschaft zu integrieren. Mehr noch, er sagt seine Meinung und innerhalb der Mannschaften will er sich immer weniger gefallen. Je mehr er versteht, je mehr er sich selber äußern kann, desto mehr emanzipiert er sich. Und desto weniger ist er bereit, sich unterdrücken zu lassen. Doch damit kratzt er an den Hierarchien, wie es sie auf einem Segelschiff jener Tage nun einmal gab. Schlimmer noch. ELOI wehrt sich handfest.

Das Drama nimmt seinen Lauf. Die Hauptfigur, um die sich alles dreht, vermag echtes Mitleid heraufzubeschwören. Im Comic oder überhaupt in der Fiktion ist das eine ziemliche Seltenheit. Younn Locard und Florent Grouazel überlassen vieles den Vorstellungen des Lesers. Sie ergehen sich in erzählten oder gezeigten Andeutungen. Teils geben die Reaktionen der Beteiligten über das Geschehen Auskunft. Das Ende ist traurig, wie es eigentlich auch die gesamte Geschichte durchweg unterschwellig der Fall ist. Das Ende ist nicht vorhersehbar, aber konsequent.

Eine düstertraurige Handlung über Unverständnis, Missverständnis, Unwissen und Unwollen. Wohin führt mangelnde Mitmenschlichkeit? Wie oft lässt sich jemand drangsalieren, bis selbst bei dem Friedfertigsten die Grenze überschritten ist? Und was ist der Kern von Zivilisation? Viele Fragen, viele Antworten in dieser dichten, sehr komplexen Tragödie. Packend, traurig, intelligent. 🙂

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