Die Tote liegt auf dem Rücken in der mit Wasser gefüllten Badewanne. Ihre Augen sind weit aufgerissen, sekundäre Geschlechtsmerkmale ragen aus der Wasseroberfläche. Die Umstände lassen auf einen Unfall schließen. Doch Inspektor Romane Pennac hat eine andere Vermutung. Leider liegt sie mit ihrer Annahme nicht im Trend der Ermittlungen. Offensichtlich soll die Tote als Unfallopfer durchgehen und weitere Fakten, die auf einen anderen Hergang hindeuten, sind gar nicht erwünscht. Pennac, die als einzige Weiße und auch noch als Frau einen schlechten Stand auf dem Pariser Polizeirevier hat, gelingt es schließlich noch, ihren Chef auf ihre Seite zu ziehen. Da naht bereits der nächste Fall, weitaus ungewöhnlicher als der vorherige.
Die Welt hat sich selbst geschafft. Die westliche Welt ist unter GRÖSSER, HÖHER, SCHNELLER, WEITER zusammengebrochen. Einwanderer aus Afrika haben ihren Platz in Europa und Amerika eingenommen. Weiße, wie die junge Polizistin Pennac werden eingestellt, um möglichen Vorwürfen wegen Rassismus vorzubeugen. Vieles, was einst zur Normalität des Alltags zählte, ist zu etwas Besonderem geworden. Fliegen gehört dazu. Von den Tagen, als es zu Dumpingpreisen erschwinglich für nahezu jedermann war, ist man nun weit entfernt. Öl ist eine Kostbarkeit. Und nicht nur aus diesem Grund sind Autos im Straßenbild Mangelware. Das Pferd erobert sich den mangelhaften Asphalt zurück. Die Reparatur der Schlaglöcher ist durch die öffentliche Hand kaum bezahlbar.
Hoffnungsschimmer durch neue Technologien. Allerdings werden auch Begehrlichkeiten krimineller Art geweckt. Inspektor Pennacs Bruder arbeitet für einen Konzern, der die Methanproduktion revolutioniert und ein Vielfaches der üblichen Mengen produzieren kann. Pennac hätte sich nie dafür interessiert, hätte nicht eine ominöse Botschaft dafür gesorgt, ihr eine Reise in die Vereinigten Staaten zu bescheren. Die Erzähler Leo und Corine Jamar bauen den Spanungbogen langsam auf. Wer bisherige Veröffentlichungen von Leo kennt, weiß, dass er sich gerne herantastet und der Umgebung seiner Geschichten einen hohen Stellenwert beimisst. Entsprechend darf sich die veränderte Erde entfalten, durch die Aktionen ihrer Menschen, aber eben auch in hohem Maße durch die Blicke auf jene Welt, wie sie uns heute in mancherlei Hinsicht so düster vorhergesagt wird. So bebildert, erhöht sich die Aussagekraft von derlei Vorhersagen dramatisch, vor allem, da sie nicht mit den zerstörerischen Ideen eines Roland Emmerich daherkommen, sondern allenfalls ein, zwei Schritte näher an den viel beschworenen Abgrund.
Fred Simon zeigt seine Kunstfertigkeit bereits auf dem Titelbild. Die Feinarbeit dort setzt sich nahtlos im Innenteil fort, feinste Striche, wie sie auch Leo selbst bevorzugt (wenn er gleichzeitig die grafische Arbeit übernimmt). Allerdings verlässt Fred Simon im Gegensatz zu Leo bei der Darstellung der Menschen den Realismus. Körperlich orientiert er sich schon am Original, in den Gesichtern spielt er gerne mit einer leichten Karikatur, setzt verschiedene Stilmittel ein, europäische wie asiatische und mischt dies zu einem ganz eigenen Werk. Die Rückentwicklung oder auch Reanimation bestehender Technik liefert tolle Vorlagen für die Bebilderung dieser Zukunft. Bei der Ankunft Pennacs in New York werden viele Leser bestimmt sofort an kubanische Straßenansichten denken, sind doch viele Fahrzeuge aus den 50er Jahren umgerüstet worden, um mit anderweitig verfügbaren Treibstoffen als Öl gefahren werden zu können.
Liebevolle Umsetzung. Von Paris hinaus in die Welt. Der Schluss schmeißt den Beginn komplett um. Wer zu Anfang noch einen Krimi in leicht futuristisch desolater Kulisse erwartete, wird mit dem Schluss gehörig überrascht. Plötzlich steht der Leser einem globalen Fall gegenüber, der Anklänge von Seaquest nicht verhehlen kann (Stichwort: Darwin). Eine liebevoll gezeichnete und erzählte Schlusssequenz ist nicht nur toll zu lesen und anzuschauen, sie macht auch sehr neugierig auf die Fortsetzung.
Der gelungene Anfang eines dystopischen Thrillers in der nahen Zukunft, realistisch genug erzählt, um möglich zu werden. Leo und Corine Jamar streuen viele unterhaltsame Details ein, die Augen aufzumachen lohnt sich in den Kulissenansichten, denn es gibt viel zu entdecken, eine Art gezeichneten Subtext. Fred Simon zeichnet in einer Mischung aus Manga-Style und Herge, erfrischend klar und exakt. Für Freunde feiner SciFi-Szenarien sehr zu empfehlen. 🙂
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