Nicht nur das Verhalten von Sherlock Holmes war einer gewissen Gewöhnung unterworfen. Besonders Dr. Watson kann beurteilen, wie schwierig das Auskommen mit dem genialen Freund mitunter war. Die Familie des Verstorbenen entwirft sich vor den Augen des Doktors noch merkwürdiger. Im Traum führt der alte Freund den Doktor auf eine mysteriöse Spur. Erinnerungen sind männlich geprägt. Die beiden Brüder, der kleine Sherlock, der etwas ältere Mycroft, verbringen die Zeit mit ihrem Vater. Eine Mutter fehlt in diesen Bildern. Der Vater, inzwischen pflegebedürftig, kann oder will keine Auskunft geben. Zusammen mit seiner Frau folgt Dr. Watson den Spuren in die Vergangenheit.
Der Schatten des Zweifels ist über dem Erbe des Sherlock Holmes aufgezogen. War er wirklich der über die Maßen intelligente Ermittler, der die Schurken dank der überragenden Geistesfähigkeiten dingfest machte? Oder war er am Ende ein Scharlatan, der es zuwege brachte selbst den engsten Freund zu täuschen und einen Erzfeind zu erschaffen, der lediglich in der Fantasie existierte? Dr. Watson kann und will diese Botschaft nicht glauben. Die Spur zur Lösung des Rätsels führt ausgerechnet nach Frankreich. Unterdessen betreibt der junge Wiggins seine eigenen Nachforschungen. Einst von Sherlock Holmes entdeckt, tritt er nun in die Fußstapfen seines Vorbilds und schlittert in eine der irrsinnigsten Schlägereien, die London je erlebte.
Luc Brunschwig beleuchtet den jungen Mann namens Simeon Wiggins genauer, von dem der Leser bislang auch hätte annehmen können, es handele sich um eine Art Aufschneider. Der Zusatz auf seiner Visitenkarte, Wärmstens empfohlen von Mr. Sherlock Holmes, ist eine Referenz der besonderen Art, die neugierig macht, aber auch nicht sehr glaubhaft klingt. Allerdings wird den jeweiligen Gegenübern, immerhin den Erwachsenen, schnell klar, dass Mr. Wiggins einiges von dem über die Landesgrenzen hinaus bekannten Privatdetektiven gelernt hat. Aus dem Straßenjungen von einst ist ein Mann mit Umgangsformen geworden. Luc Brunschwig verwebt hier elegant die Lebensgeschichte des jungen Mannes, das Schicksal von Sherlock Holmes mit einem weiteren in der Schwebe befindlichen Kriminalfall.
Es ist nicht nur Spannung der leisen Art, wie sie im ersten Teil noch dominierte. In manchen Passagen geht es handfest zur Sache. Das ist besonders in einem Fall kurios anzuschauen und zu lesen. Cecil, der Comic-Künstler, geht in einem sehr anschaulichen Anhang, Making of, auf die rasante Sequenz ein, in der sich die Polizei Londons kaum des Mobs erwehren kann. Es herrscht Lynchstimmung auf den Straßen. Die Besonderheit sind die ausufernden Massenszenen, die Cecil hier bewältigen muss und es mit dem gleichen Blick schafft, der auch Künstlern von wandgroßen Historiengemälden zueigen ist, die es schaffen, in jedem Bildausschnitt ein kleines Drama einzubauen.
Das Making of trägt einiges dazu bei zu erkennen, wie Cecil den Bildaufbau betreibt und neben der rigorosen Charakterisierung der einzelnen Figuren auch das alte London und das ländliche Frankreich wiedererstehen lässt. Obwohl die Hintergründe oft nur der Kulisse dienen und eine nachgeordnete Rolle spielen, befördern sie die Geschichte fühlbar wie ein Blick auf alte Fotografien. Auffällig, bereits in der Handlung selbst, ist die Vorstellung eines neuen Mitspielers, Dr. Dudley Parks, der vor Jahren von Sherlock Holmes verdächtigt wurde, Jack the Ripper zu sein. Wie akribisch diese (und andere) Charaktere vorbereitet wurden, lässt das Skizzenbuch im Anhang erahnen. Gleichzeitig, mit der Beleuchtung der Arbeitsprozesse, wird auch der Arbeitsaufwand hier hervorragend gezeigt. Originalblätter dürften sogar in Bilderrahmen ein schönes Zuhause finden.
Mysteriöse Ereignisse bilden die Grundlage für stärkere Dramatik als im ersten Teil. Erzählung und grafische Gestaltung sorgen für sehr präzise Charakterdarstellungen und vertiefen insbesondere die Figur des Dr. Watson, der hier endgültig aus dem Schatten seines großartigen Freundes ins Licht tritt, allen eigenen Zweifeln zum Trotz. Eine weiterhin sehr schöne und würdige Fortsetzung um die Figur des Sherlock Holmes. 🙂
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