Der Schneider-Jürgen ist tot. Aber nichts Genaues weiß man nicht. Der Erwin hat es den anderen erzählt. Und jetzt rätselt man, woran der Schneider-Jürgen gestorben ist. Und eigentlich rätselt man nur deshalb, weil dieser Rainer an der Theke, der immer Kristallweizen trinkt, dem Schneider-Jürgen ähnlich sieht. Der Kerl, von dem man nichts weiß (außer der Tatsache, dass er ein Kristallweizen nach dem anderen trinkt), könnte von der Polizei sein und auf der Suche nach Drogen. Die Polizei tut sich jetzt in den Kneipen in West-Berlin um, hört man, also vielleicht ist der Kerl von der Polizei. Herrn Lehmann wird die Diskussion zu bunt, steht auf, geht hin und fragt einfach nach.
Herr Lehmann ist in gewisser Weise ein Philosoph. Er hat in seinem 30jährigen Leben Erkenntnisse gesammelt, zuletzt lange hinter dem Tresen. Einwände, passende und unpassende Antworten, Urteile und mitunter zutreffende Vorurteile gibt er gerne zum Besten. Irgendwie muss das Umfeld von Herrn Lehmann begriffen haben, dass Herr Lehmann ein etwas anderer Zeitgenosse ist. Eigentlich möchte er viel lieber Frank gerufen werden. Schließlich ist das sein Vorname. Aber Herr Lehmann hat sich zu Herrn Lehmanns Leidwesen durchgesetzt. Sven Regener schrieb den Kultroman um Herrn Lehmann, der die letzten Tage kurz vor dem Mauerfall in West-Berlin erlebt.
Alles beginnt mit einem fremden Hund, der Herrn Lehmann nach einer langen Nacht auf dem Bürgersteig aufhält und nicht vorbei lassen will. In schwarzweißen Bildern, mit aquarellierten Graustufen hat Comic-Künstler Tim Dinter den Roman in einer Graphic Novel eingefangen. Es ist ein großes West-Berlin, seltsam leer manchmal, in dem so mancher in Herrn Lehmanns Bekanntenkreis sich treiben lässt, von Kneipe zu Kneipe. In dieser Szene, deren Netz über den kapitalistischen Teil Berlin verwoben ist, stößt Herr Lehmann also auf diesen Hund. Nach Momenten der Angst wird eine Lösung gefunden, wie er mit diesem knurrenden und offensichtlich auf Konfrontation eingestellten Ungetüm fertig werden kann. Er macht den Hund betrunken.
Die Geschichte beschreibt ein Lebensgefühl. Nicht nur ein einzelnes. Es bildet sich aus einer ganzen Gruppe heraus, in deren Mittelpunkt, ob er will oder nicht (meistens will er nicht), Herr Lehmann steht. Wenn Not am Mann ist, in einer der Kneipen, die sein Boss besitzt, dann wird Herr Lehmann gerufen. Und Herr Lehmann kümmert sich. So ist die Bezeichnung Herr Lehmann nicht nur schnoddrig dahin gesagt, sie ist auch eine offenkundige Form des Respekts. Gibt es Probleme? Keine wirklichen. Na, gut, man fliegt als Hetero (und als Frau) mal aus einer Schwulenbar raus. Frauen kennen im Bereich Verliebtsein verschiedene Schattierungen. Herr Lehmann kannte bisher nur eine.
Und dann? Kommen eben doch echte Probleme und Veränderungen. Eine davon ist die 30. Denn die bezeichnet plötzlich das Alter von Herrn Lehmann. Karl bekommt echte Schwierigkeiten, solche, die Herrn Lehmann überraschen, aber denen er sehr gefasst begegnet und weitaus besser, als es die anderen in seinem Umfeld machen. Tim Dinter setzt die Erzählung um Herrn Lehmann in sehr klare Bilder um, die besonders ans Herz gehen, wenn der einmal lieb gewonnene Karl Schwierigkeiten macht. Die Gesichter der Figuren bleiben prägnant, gut erkennbar, in einem Bildausschnitt, der an das Pantoffelkino erinnert.
Eine der schönsten Szenen, auch eine, die Herr Lehrmann selbst in Schwierigkeiten bringen kann, ist, als er (weil er wieder einmal jemandem einen Gefallen tut) in der DDR, Ost-Berlin, mit 500 Westmark erwischt wird. Die einfache Darstellung, zusammen mit dem feinen Dialog, ist rundum gelungen und zeigt gleichzeitig, wie man’s macht.
Eine sehr umfangreiche Adaption des Erfolgsromans von Sven Regener ins Medium Comic. Als Graphic Novel von Tim Dinter gezeichnet, funktioniert der Witz, die Melancholie und Nostalgie der Handlung auch hier ausgezeichnet. Wer den Roman verpasst hat, lieber in optischen Kapiteln liest, wird den ganz eigenen Charme von Herrn Lehmann auch auf diesem Wege lieben lernen. 🙂
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