Clementine, kurz Clem genannt, ist ein ganz normales Schulmädchen mit ganz normalen Problemen, käme ihr nicht sehr bald schon das Erwachsenwerden in die Quere, die Liebe und all jene Störfaktoren, die doch bis hin zur Tragödie so anziehend sind. Ihr Störfaktor, der sie so verwirrt, ist eine junge Frau mit blauen Haaren, die sie kurz auf der Straße sieht, ihr in die Augen schaut. Es ist nur ein Moment und dennoch kann Clem diesen Augenblick nicht vergessen. Es vergeht Zeit. Clem lebt ihr Leben und zieht eines Tages mit einem Freund neugierig, ein wenig ängstlich und abenteuerlustig durch die anrüchige Homoszene. In einem Club trifft sie die Frau mit den blauen Haaren wieder. Emma, so ihr Name, hat Clem ebenfalls nicht vergessen.
In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts, als sich die Homosexualität weiter in das Leben der Gesellschaften integrierte, waren dennoch viele Hürden zu nehmen. Normalisierung bedeutete in jenen Tagen noch einen langen Weg, der nicht zu Ende beschritten ist. Die Figur der Clementine macht plötzlich die Erfahrung, sich zu einem Menschen ihres eigenen Geschlechts hingezogen zu fühlen. Das hatte sie so nicht geplant, stand immerhin das nähere Kennenlernen eines Jungen, Thomas, auf dem Programm. Julie Maroh, Autorin und Künstlerin, die hier eigene Erfahrungen verarbeitet, zeigt den inneren Kampf von Clem um das Verständnis um die eigenen Wünsche, Begierden, das Leben an sich.
Und sie zeigt den äußeren Kampf gegen andere Menschen, die eigenen Eltern, wieder um Verständnis, aber sie zeigt auch die Überzeugungskraft, die nötig ist, um Emma zu beweisen, dass Clem nicht nur einer Laune folgt, die sie bei dem nächsten Kerl wieder zu den Akten ihrer Erinnerungen legt. Liebe bedeutet hier ein Risiko und Clem ist bereit, dieses Risiko einzugehen, von dem sie zunächst glaubt, sie könne es überlisten, in aller Heimlichkeit. Aber Liebe will nicht heimlich gelebt werden. So könnte die Erkenntnis lauten, die sich sehr schnell aus der Geschichte von Julie Maroh ergibt. Und so hat die Öffentlichkeit der Beziehung bald schon die erwartbaren Folgen.
In einer Liebe mit all ihren Höhen und Tiefen ist der Weg dorthin bereits hier steinig und nicht immer ist abzusehen, was einmal daraus werden wird (obwohl die Geschichte im Rückblick erzählt wird). Der Rückblick ist im Bild schwarzweiß, nur das Blau ist eine Farbe, die Clem nie vergessen hat, die das hervorstechende Merkmal jener Lebensphase gewesen ist. Blau war ein Magnet, auch ein Anker für beide Frauen. Julie Maroh verwendet die Farbe genau auf diese Weise. Eigentlich nur bei zwei Gelegenheiten drückt die Farbe auch Hoffnungslosigkeit aus: in der Farbgebung vom Clems Tagebuch, denn was hier drin geschrieben steht, kann nicht mehr geändert werden. Und in einem kleinen blau gefärbten Jungen, einem Kleinkind, das Clem in ihren Träumen sieht und ihre Beziehung zu Emma zur Familie machen würde.
Julie Maroh zeichnet eine Graphic Novel. In diesem Bereich herrschen ganz eigene Regeln, Zeichenkunst ist meist stilisierter, auch reduzierter, Inhalt geht oft vor Bild. Szenen und Sequenzen nehmen sich mehr Zeit, als ihnen sonst üblicherweise eingeräumt werden. Marohs Stilistik findet ein Menschenbild, das sich in den Charakteren wiederholt. Unterscheidungen finden sich in Frisuren und Kleidung. Alterserscheinungen werden zur Verkleidung, Menschen sind sich optisch ähnlich, Abgrenzungen finden durch Mentalitäten statt. Das Blau durchbricht die Stereotype. Die Titeloptik findet sich auf dem selben Niveau auch auf den einzelnen, über 150 Seiten wieder.
Anrührend, liebevoll erzählt, auch mit einiger Traurigkeit beschreibt Julie Maroh die Liebesbeziehung zweier Menschen, die zufällig Frauen sind, Höhen und Tiefen eingeschlossen, eine Geschichte ohne Happy End, aber mit einer Menge Glück auf dem Weg. 🙂
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