Für den roten Korsaren sind die Weltmeere ein Ort, auf dem er gefürchtet wird. Der rote Korsar ist ein Name, ein Fluch, doch der Erfolg gibt dem Haudegen recht. Wo der Schrecken ihm vorauseilt, muss er den Feind kaum fürchten. Eines Tages macht er seinem Ruf wieder einmal alle Ehre. Er entführt einen Jungen, nimmt ihn als seinen Sohn an. Dieses Kind aus gutem Hause wird von ihm zu seinem Nachfolger erkoren. Gegen den Widerstand seiner Mannschaft behält er den Jungen an Bord, erzieht ihn nach Piratenart. Das genügt selbstverständlich nicht. Der Junge soll mehr lernen als das kämpferische Leben der Galgenstricke und das nautische Geschick eines Seemanns. Sehr zum Leidwesen des Jungen, der zu einem staatlichen Mann heranwächst.
Doch wer würde einen Piraten zur See unterrichten? Kurzerhand entführt der rote Korsar ein paar Lehrer und den jungen Mann, den sie ursprünglich unterrichten sollten, gleich mit. Für den lässt sich entweder ein Lösegeld erpressen. Oder man nutzt ihn wenigstens als Geisel, so dass die Verfolger einen in Ruhe lassen. Zumindest vorerst. Mit allen Wasser gewaschen segelt der Pirat weiter über die Weltmeere, aber etwas Unerwartetes geschieht. Der Charakter seines (zwangsweise) adoptierten Sohnes wandelt sich. Bald schon will der junge Mann kein Pirat mehr sein.
Sie waren wirkliche Erzählergrößen, unabhängig vom Medium Comic: Jean-Michel Charlier und Victor Hubinon. Sie schafften es mit feinen Geschichten gut und spannend zu unterhalten, zeitlose Vorlagen für nachfolgende Generationen zu liefern und konnten sich gleichzeitig durch unterschiedliche Genres bewegen wie nur wenige es auch heute vermögen. Es war eine andere Erzählerzeit, die, von der Epoche selbst, zurückgenommen, ohne vordergründigen Sex and Crime auskam und sich auf das Wesentliche einer Handlung konzentrierten. Hier wurde kein Platz verschwendet, man konzentrierte sich wirklich auf Handlung und Charaktere und schuf so eine begnadet seitenweise dichtes Abenteuer.
Victor Hubinon besitzt diesen wunderbaren Zeichenstil zwischen Comic und Realismus. Er lässt immer das Quäntchen Überspitzung durchscheinen, auf den ersten Blick fast Karikatur, auf den zweiten Blick genau die Prise Realismus, die dem übrigen Geschehen das Sahnehäubchen aufsetzt. Er konnte sich auch stark in die technische Seite eines Plots einarbeiten. Die Langlebigkeit von Serien wie Der rote Korsar, aber auch natürlich dem anderen Klassiker Buck Danny, beweisen das. Und sie zeigen gleichzeitig auch die Bandbreite wie auch die besondere Gegensätzlichkeit seiner gezeichneten Abenteuer. Das frühe 18. Jahrhundert liegt ihm ebenso wie das 20. Jahrhundert mit seinem Innovationen.
Die dargestellte Atmosphäre des 18. Jahrhunderts ist klassisch, romantisch. Wer den den Filmklassikern dieses Genres zugetan ist, wird sich hier auch zu Hause fühlen. 1959 erschien das erste Abenteuer. Der erste Abschnitt in Pilote zeigte den roten Korsaren noch nicht. Auf dem Titelbild der vorliegenden Gesamtausgabe, mit den ersten beiden Abenteuern Der Teufel der Karibik und Der König der sieben Meere, präsentiert sich der wilde Pirat in all seiner Pracht, mit rotem Bart und roten Waffenrock. Beides wird er einmal zur Tarnung ablegen, damit ihm die Flucht aus der Gefangenschaft gelingt. Victor Hubinon gelingt das Kunststück, den Piraten dennoch erkennbar bleiben zu lassen.
Und Jean-Michel Charlier gelingt gleichfalls ein Kunststück, nämlich dem Piraten ein Stück seiner Unbesiegbarkeit zu nehmen und ihm trotzdem die Stärke zu lassen. Charlier, ein Tausendsassa auf dem Gebiet des Comics mit Serien wie Leutnant Blueberry und Tanguy und Laverdure, beherrscht hier besonders schön das Drama abseits der Piratenkämpfe und ihm gelingt besonders mit dem Sohn des roten Korsaren ein Charakter, der eine treffliche und nachvollziehbare Wandlung durchläuft. Die vielfältigen Hintergrundszenarien wie das Leben zur See, die Königliche Seeakademie oder auch der Sklavenhandel jener Tage sind Schauplätze, die für eine starke Lebendigkeit der Handlung sorgen.
Der Auftakt eines Klassiker des historischen Szenarios: Der rote Korsar lebt. Gar keine Frage, die Konstruktion dieser Abenteuer von Charlier und Hubinon funktioniert bis heute und besser als manche modernen Experimente. Hervorragend gezeichnet von einem Meister seines Fachs. 🙂
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