Freitag, 13. September 2013
Harpyien. Sie wähnen sich in Sicherheit, wenn sie aus der Luft angreifen. Von hier aus können sie in aller Ruhe zuschlagen, ohne eine nennenswerte Gegenwehr fürchten zu müssen. Jason und seine Argonauten, unter ihnen auch Atalante, wollen helfen, die Angreifer in die Flucht zu schlagen. Die schiere Überzahl ist schon überwältigend, dennoch wollen nicht alle aus seiner Kampftruppe den Ernst der Lage begreifen und so werden sie prompt überwältigt und entführt. Sicherlich wollen die Freunde die Entführten befreien, aber das Ziel ist ein Wolkenpalast. Wie soll man dorthin gelangen, wenn man keine Flügel hat? Nun, man sucht sich Mitstreiter, die fliegen können. Doch auch das ist wieder leichter geplant, als getan.
Ja, der Olymp hat seine ganz eigenen Gesetze. So spielen die Götter auch Brettspiele, mit strategischem Einschlag natürlich, doch falls Zeus einmal verliert, ist sein Zorn fürchterlich und Spielfiguren können schon mal verloren gehen. Auf der Erde. Doch dem Autoren und Zeichner Didier Crisse ist das nicht genug. Die Zahl der Kreaturen, die hier aufgeboten wird, bietet eine fantastische Mischung mythologischer wie auch märchenhafter Wesen und selbstverständlich auch Helden, die sich in dieser Form nicht so häufig in Gruppen zeigen. Und mittendrin ist Atalante, mit dem Herz am rechten Fleck, mutig, geschickt, kampfeserprobt und schön. Weil diese Voraussetzungen für eine Heldin außerordentlich gut sind, fallen die zu bewältigenden Aufgaben entsprechend schwierig aus.
Der Der Flug der Boreaden, im vierten Band aus der Reihe Atalante, gibt Didier Crisse die Möglichkeit mit Volldampf eine seitenweise Pracht aus dem Hut zu zaubern, in dem es von Ideen nur so wimmeln muss. Allein die Auftritte der vielfältigen Kreaturen – so vielfältig, dass sie beinahe von vom Rest der Handlung ablenken – sind ein Kabinettstückchen der besonderen Art. Bedenkt man nur den Greif (und seine zwei Söhne), wird schon hier ein Figur über mehrere Seiten zelebriert, die erst einmal ihre Flugkünste unter Beweis stellt. Und sie ist bei weitem nicht die einzige Kreatur der griechischen Mythologie, die hier die Lüfte erobert. Halb Löwe, halb Schlange sieht der mächtige Chimäre eher unelegant in den Himmeln aus. Geflügelte Pferde jedoch sind wie geschaffen für einzigartige Bilder. Nur der ebenfalls geflügelte Stier Andros kann sie noch übertreffen.
Dieser Band lebt von der Zusammenstellung einer Gruppe zur Befreiung von Atalantes Freunden. Sicherlich weiß die Einleitung ein gehöriges Maß an Dramatik aufzuweisen – immer im Rahmen einer disney-artigen Inszenierung – doch das Sammeln der Begleiter und Kämpfer ist viel aufwändiger und erinnert in seiner Machart beinahe an andere Geschichten mit legendärem Unterton (z. B. Die sieben Samurai). Der Aufbau ist ähnlich, nur so blutig wird es nicht. Nur eine kleine Schockszene lässt sich nicht vermeiden, passt aber in den märchenhaften Ansatz. Sind diese Gesellen alle einmal vereint, kann es an das wahre Abenteuer gehen. Doch das gibt es erst im nächsten Band zu erleben. Hier findet sich auch der einzige (klitzekleine) Makel in einer ansonsten leichten, kindgerechten Geschichte, die einen die nächste Folge als fantasy-begeisterter Leser kaum erwarten lässt.
Wenn Didier Crisse andere Comic-Figuren geschaffen hätte, sähen sie vielleicht so aus, wie es der umfangreiche Anhang vermittelt. Amerikanische Superhelden beider großer amerikanischer Comic-Verlage, ganz nebenbei ein paar Figuren, sich geradezu in die Gedanken des Zuschauers schmeicheln und neue Abenteuer wie nebenbei entstehen lassen oder auch die Steampunk-Charaktere, die nur darauf warten, in einer eigenen Serie zum Leben erweckt zu werden (sehr gerne sogar).
Als Atalante-Fan kommt man an diesem von Fred Besson einmal mehr in bunte, peppige Farben getauchtem Abenteuer nicht vorbei. Obwohl Band 4 können es auch Neueinsteiger sehr gut ohne jegliche Vorkenntnisse genießen, da viele neue Figuren auftreten und sich erst einmal vorstellen. 🙂
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Montag, 09. September 2013
Für die kleine Kolonie New Fraternity und ihre Bewohner ist es schwierig, sich aus dem Bürgerkrieg herauszuhalten und neutral zu bleiben. Innerhalb der Gruppe schwelt der Konflikt. Ganz besonders die Ausrichtung der Kolonie, ihre Organisation und Arbeitsverteilung bereitet große Probleme. Es sollte ursprünglich ein neuer Weg gefunden werden, ohne die Welt da draußen zurecht zu kommen. Doch es will nicht gelingen. Kompromisse werden gefunden, bittere Zugeständnisse, die trotz der misslichen Lage nicht wenigen aufstoßen. Der kleine Junge Emilio ist in dieser Gruppe dieser Gruppe ein Außenseiter. Verwildert und wortlos macht er sich zwar nützlich, aber gelitten ist er auch nur bei den wenigsten. Da lernt Emilio einen Freund kennen, mit dem niemand gerechnet hat.
Der amerikanische Bundesstaat Indiana im Jahre 1863. In der abgeschiedenen Welt wollen sich nahezu alle Einwohner der Realität verweigern, sich ihr verschließen können sie dennoch nicht. Der Krieg gelangt auch bis an ihre Türen. Autor Juan Diaz Canales beschreibt in seiner Ausgangssituation keine ungewöhnliche, aber heutzutage eher seltene Enklave in den Vereinigten Staaten. Der Wille, sich abzuschotten und innerhalb des Landes der Freien etwas ganz Eigenes zu versuchen, wohnt manchem Amerikaner immer noch inne. Umso verständlicher mutet dieses Szenario immer noch an, obwohl es sich in der noch jungen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewegt. Das Faszinierende ist der Umstand, dass der Leser an der Seite des kleinen Emilio die Geschichte erlebt. Da Emilio stumm ist, seine Ansichten erst durch sein Verhalten deutlich werden, ist der Leser mehr gefordert aus den Mimiken und der Situation zu lesen. Dank eines Künstlers wie Jose Luis Munuera gelingt das hervorragend.
Emilio wird in den Wäldern gefunden, nackt, verwildert, wie ein Tier lebend. Die Jäger, die ihn aufspüren, machen sich diesen Umstand, es handele sich um kleinen Jungen kaum bewusst. Sie wollen Rache für die Hühner, die er bei ihnen gewildert hat. Immerhin beweist einer Güte und Menschlichkeit und reicht dem verlorenen Kind die Hand. Allein die Auftaktsequenz ist ein kleines Comic-Juwel in der von Munuera zeichentrickartigen Technik. Die Farben von Sedya nehmen sich sehr zurück. Als läge ein industrieller Schleier über den Bildern, so taucht diese Welt aus den Seiten auf. Es sind die Farben früher Fotografien, die hier Alter und Vergangenheit vortäuschen und durch die Reduzierung den Blick enorm konzentrieren.
Die luftigen, sehr raumgreifenden Figuren und Gesichter, die Munuera entwirft, brauchen jede Aufmerksamkeit, die sie bekommen können, liegt doch allein in der äußeren Erscheinung einer jeden vorkommenden Figur eine Geschichte verborgen. Nur wird leider nicht jede erzählt. Die gezeigte Umgebung wird so sehr lebendig. Am Beispiel der vier schwarzen Deserteure der Unionstruppen zeigen sich die von Munuera herausgearbeiteten Unterschiede sehr schön. Er zeichnet bei weitem nicht derartig cartoonartig wie ein Willy Lambil, erreicht aber hier auch nicht die Disney-Optik. Technisch ist er dazwischen angesiedelt, mit sehr vielen Alleinstellungsmerkmalen, die ihn stilistisch sofort erkennbar werden lassen.
Während vordergründig die Menschen agieren, gibt es im Hintergrund einen heimlichen Star der Geschichte, der, wie es sich für ein geheimnisvolles Wesen gehört, nur sehr verhalten eingeführt wird. Umso beeindruckender ist das Design des Wesens, dessen Schädelform deutlich von anderen Monstern abweicht. Munuera hat sich keine Fleischfresser zum Vorbild genommen. Das Wesen ist richtig merkwürdig gelungen, wie es nur selten in vergleichbaren Comics mit Monsterthematik zu finden ist.
Der erste Band von zweien, ungewöhnlich erzählt und bebildert, auf jeder Seite eigen, fesselnd, etwas märchenhaft auch, mit Mythologien spielend. Munuera etabliert sich als der Künstler für den feinen Zwischenton. Sehr schön. 🙂
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Mittwoch, 04. September 2013
Die Tränen der Bienen. Ein seltsamer Name, aber ein wichtiges Kleinod, eine seltene Flüssigkeit und nun ist sie verschwunden. Erwan muss sie unbedingt wiederfinden. Doch wo soll er suchen? Wo ist der Nachlass seines Mentors mit den kleinen Phiolen geblieben? Die Lösung ist bald gefunden. Gemeinsam mit Pauline macht er sich auf den Weg. Soll Gaelle für die kurze Weile auf die kleine Blanche aufpassen? Was soll schon passieren? Eigentlich verstehen sich die beiden ja ganz gut. Aber Blanche ist kein normales Kind. Und Gaelle ist … sie ist eben Gaelle. Neugierig.
Geht die Welt unter? Eine Reise entpuppt sich langsam aber sicher als der Prolog zu ungeheuren Ereignissen, die an der Existenz der menschheit zu rütteln beginnen. Die Ausmaße der Idee von Regis Loisel waren im ersten Band der Reihe Der große Tote in keiner Weise absehbar. Selbst mit dem Wissen des dritten, also vorhergehenden Bandes trifft die Handlung den Leser im vierten Band, Sombre völlig überraschend. An der Seite der beiden Frauen, Pauline und Gaelle, ist zunächst ein Streit zu beobachten. Aus einer Eifersüchtelei heraus kommt es zu einer Aussprache und im nächsten Augenblick tritt die Katastrophe ein.
Das Titelbild spielt mit dieser Katastrophe, in der es sich Gaelle nicht verkneifen kann, um ihre Ente zu trauern, nur um sich bald schon über einen anderen Klassiker, eine Vespa, zu freuen. Viel mehr Grund zu Freude gibt es allerdings nicht. Denn vor den kleinen Weltuntergang haben Loisel und Co-Autor JB Djian Rätsel platziert. Eines davon heißt Blanche und ist die kleine Tochter von Pauline. Eigentlich hätte Pauline niemals schwanger sein dürfen, immerhin gehört nach menschlichen Maßstäben auch ein Vater dazu. Alsbald ist deutlich, dass Blanche ein Kind der kleinen Welt ist, ein Mischwesen. Die Bedrohung, die von der Kleinen ausgeht, ist zurückhaltend, aber spürbar. Und was dem Leser vorenthalten wird (bisher jedenfalls), malt er sich in entsprechenden Farben aus.
Vincent Mallie verleiht den Bildern eine schöne Leichtigkeit, wie es der Comic-Fan von Bildern, die Regis Loisel selbst gestaltet hat, her kennt. Vincent Mallie arbeitet aber noch eine Spur realistischer und gibt seinen Charakteren ein hohes Maß an Lebendigkeit mit, die besonders in der Menschenwelt funktioniert. Die Wesen der anderen Welt sind schwieriger zu durchschauen. Sie sind durchaus fantasievoller zu nennen, aber ihre Mimik fällt auch durch geringere Möglichkeiten auf. Hier findet eine Orientierung an gängigen außerirdischen Physiognomien statt. Die Konzentration der vorliegenden Handlung, des 4. Bandes, liegt auf den Menschen, die hier zu einem Spielball geworden sind, ohne es so recht zu bemerken. Der feine Strich, der ihre Gefühle sehr gut beschreibt und dem begleitenden Text beinahe einen Ton gibt, wird durch eine tolle Kolorierung gestützt.
Hier ist Lapierre ein großes Lob zu machen, denn die Natürlichkeit der Farbgebung, gerade in Land und Stadt ein Tageslicht auf das Papier zu zaubern, macht besonders aus den ländlichen Abschnitten der Erzählung ein kleines Juwel. Da ist nicht zu viel und zu wenig gemacht worden, sondern es passt alles wie das berühmte I-Tüpfelchen. Die Farbflächen sind niemals glatt. Es finden sich selbst in den scheinbar hellsten Flächen noch farbliche Unruhen, so dass hier auch eine simulierte Natürlichkeit des Farbauftrags entsteht.
Jetzt wird es aber mächtig spannend. Nicht nur die Welt geht unter, es zieht auch noch ein Krieg auf. Die Abschnitte, leicht episodenhaft, packen immer mehr, da sich das Rätsel langsam entwirrt und die Spieler aus der Deckung kommen. Klasse. 🙂
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Sonntag, 01. September 2013
Dieser Anwalt ist keine Zierde seines Berufes. Für seinen Erfolg geht er über die sprichwörtliche Leiche seines Gegners. Welchen Schaden er anrichtet, soll ihm schon bald bewusst werden. Dabei ist dies nicht einmal sein größtes Problem. Seine Frau sieht sich in den besseren Kreisen. Mit mehr Geld bestückt, in schöneren Gegenden, mit schöneren Kleidern und eigentlich wünscht sie sich auch einen anderen Mann an ihrer Seite. Aber eines nach dem anderen. Zuvor gilt es diesen Versager loszuwerden, der sich nur noch in seiner Angst suhlt und doch tatsächlich das Schießen übt. Allerdings ist er kein Meister seiner Klasse und es sieht nicht so aus, als würde er jemals zu einem werden.
Der Mann, der keine Feuerwaffen mochte? Warum eigentlich? Im zweiten Band lüftet Wilfrid Lupano das Geheimnis um die Abneigung seines Helden Byron Peck gegen Feuerwaffen. Gleichzeitig erfolgt eine Aufklärung um das seltsame Duo aus Peck und dem Hünen Knut Hoggaard, der offensichtlich durch eine Schussverletzung einen Hirnschaden davon getragen hat. Hat ihm letzteres auch enorme Sprachschwierigkeiten eingebracht, ist der Hass auf Pecks ehemalige Ehefrau, Margot, doch ungebrochen. Diese dritte Hauptfigur versteht es meisterhaft, auch unter Einsatz ihres wohlproportionierten Körpers, Männer gegeneinander auszuspielen.
Der Blick in die Vergangenheit und die gleichzeitige Reise in der Gegenwart zeigt dem Leser zwei Handlungsstränge sehr unterschiedlicher Natur. Ist das eine eher Charakterzeichnung und Ehedrama, ist das andere ein Roadmovie in Wildwestmanier sowie eine Jagd. Wer hier das Rennen machen wird, ist noch völlig offen. Mit Paul Salomone arbeitet ein Zeichner an Wilfrid Lupanos Seite, der hier zwar seine erste Serie abliefert, aber mit einer Präzision und sehr klaren Linien zu Werke geht, wie es nicht oft zu finden ist. Wie fingerfertig und von welch gutem Auge Paul Salomone beseelt ist, zeigt sich in einer besonderen Phase (wie sie auch nur höchst selten in einem Comic anzutreffen ist).
Byron Peck am Rande des Nervenzusammenbruchs. Wenn der Anwalt sich bewaffnet, sich wehrhaft glaubt und gleichzeitig von Tag zu Tag das letzte Quäntchen Verstand und Gemütsruhe verliert, dann erwacht dieser Geck von Anwalt mit seinen ultrafeinen Bärtchen regelrecht zu komödiantischem Leben. Die schmale Figur könnte bereits allein gut bestehen, läuft später an der Seite des nun tumben Knut zur Höchstform auf. Besonders die unterschiedlichen Standpunkte der beiden Charaktere, die sich mal annähern und auch entgegen stehen (Margot lässt grüßen) lassen auch den Illustratoren auf eher seltene Weise mit den Mimiken der beiden Männer spielen. Hier ist einer am Werk, der wirklich Komödie aufs Papier bannen kann. Das lässt für die Zukunft viel hoffen, nicht nur für Western-Fans.
Darüber hinaus, das Titelbild verrät es bereits (mit seinen Darstellungen vom amerikanischen Unabhängigkeitskrieg), schafft es Salomone, ein sehr breites Bild des im Umbruch befindlichen Amerika zu zeichnen. Die feinen Moden stehen dem sehr wilden Westen gegenüber, doch das städtische Leben ist spätestens hinter seinen Häuserwänden nicht weniger lebensfeindlich. Pecks emotionaler Abstieg geht mit einem Niedergang seiner Umgebung einher. Diese erinnert beinahe an das Interieur eines Horrorfilms. Es dauert ein wenig, bevor die Szenerie wieder licht wird.
Ein feiner zweiter Teil, stark erzählt und gezeichnet. Ein Western der anderen Art, auf jeden Fall dramatisch, aber auch sehr komödiantisch. Auf die Auflösung im dritten Teil kann man nur mehr als gespannt sein. Zu wünschen ist bereits jetzt, dass sich das Gespann Lupano und Salomone noch einmal an einen Western setzen. 🙂
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Nach Tschernobyl reisen und dort zeichnen? Welcher Europäer, welcher Mensch überhaupt würde sich an solch gefährliches Unterfangen wagen? Zu welchem Zweck? Emmanuel Lepage ist ein neugieriger Künstler, der den Schrecken der Atomkatastrophe im Kopf erlebt, aus Erzählungen und Dokumentationen, bevor er selbst dorthin aufbricht, um zu sehen und zu erleben, was die Jahre aus der Katastrophe gemacht haben.
Nur wenige Reiseziele besitzen einen derartigen Klang wie Tschernobyl, einem großen Mahnmal für eine nukleare Katastrophe. Lange war es ruhig darum, bis durch jüngere Ereignisse in Japan auch diese Stätte eines technischen Fehlschlags und großer menschlicher Verluste wieder ins Zentrum medialen Interesses rückte. Aber Autor und Illustrator Emmanuel Lepage setzt sich mit seinen Comic-Reportagen wohltuend von den nach Sensationen sonstigen Dokumentationen ab. Bereits mit Reise zum Kerguelen-Archipel hat er auf überragende Weise gezeigt, was Comic leisten kann. Gezeichnete Bilder, die viele mehr Informationen transportieren können, als es eine Fotografie vermag. Bilder, die neben der Grafik auch die Eintragungen des Autors in einer beinahe fühlbaren Weise unterstützen.
In der Ukraine, 22 Jahre nach dem Atomunfall im Atomkraftwerkskomplex Tschernobyl, wagen sich nicht nur Menschen von außerhalb langsam wieder in die verseuchten Gebiete hinein. Tatsächlich leben in den Randgebieten immer noch Leute, leben von Plünderungen und manch einer betrachtet es als Mutprobe, als Initiation zur Mannwerdung einmal in der verbotenen Zone gewesen zu sein und die Strahlung geschmeckt zu haben. Die Vorbereitungen zur Reise in diese Gegend erfordert von Emmanuel Lepage bereits überwinden. Er ist kein Einzelgänger, sondern ein Mensch, der mitten im Leben steht, mit Familie und Freunden. Eine Reise nach Tschernobyl ist auch ein Spiel mit dem Tod, obwohl ständig die Strahlung gemessen wird und vor Ort Vorkehrungen getroffen werden, kontaminiertes Material so gut es irgend möglich ist, nicht einzuatmen oder in die Behausungen mitzubringen. Auch Nahrungsmittel werden aus Frankreich mitgebracht.
Nicht alles funktioniert so reibungslos, wie es die Planung vorsieht. Wenn freundliche Gastgeber einem Speisen anbieten, was ist zu tun? Ablehnen? Oder im Sinne der Höflichkeit zugreifen? Emmanuel Lepage skizziert einen der unheimlichsten Landstriche der Erde, ein Beispiel dessen, was geschieht, wenn dem Menschen die Technik entgleitet und sich die Heimat gegen ihn stellt. Lepage zeichnet ein Geisterland, zurückgelassen, überstürzt selbstverständlich und nun dem steten Verfall ausgesetzt.
Emmanuel Lepage hält die Bilder meist düster, in kalten und warmen Grautönen und Brauntönen. Der Bleistiftstrich und Farbauftrag lassen die Katastrophe in noch weiterer Ferne liegen. Farbbilder, nicht häufig, lassen Lepage beinahe ein schlechtes Gewissen machen. Plötzlich wird das Land, dessen Pflanzen, auch Tiere, weiterhin gedeihen, viel zu freundlich, zu gesund. Aber hinter dieser Freundlichkeit lauert die unsichtbare Lebensgefahr, die Emmanuel Lepage mit einem beeindruckenden doppelseitigen Bild in Farbe portraitiert. Ein schöner Wald und dazwischen findet sich, auf den zweiten Bild ein einsamer, geschlechtsloser Spaziergänger mit einem Kinderwagen. Dieser Grafik folgt wieder der Verfall. Aber auch wieder Leben.
Man hat mich nicht hergeschickt, um so etwas mitzubringen! So schreibt es Lepage. Da ist zu viel Leben in und um Tschernobyl. Störche brüten auf Strommasten. Sogar Wölfe kehren in ein Land zurück, in dem die Menschen sich rar gemacht haben. Da ist zu viel hintergründige Hoffnung, die dem eigentlichen Auftrag zuwider läuft. Die Zeichner streiten sich. Soll man zeichnen, was man sieht oder was gesehen werden soll? Der Aufenthalt zermürbt, wirft mehr Fragen auf, als er Antworten bringt.
Emmanuel Lepage etabliert sich endgültig als Meister des Reise-Comic-Romans, will man einen Namen für dieses Genre finden. Die Bilder sind eindringlich, mit hoher Empathie erfasst, die Textbeiträge eine perfekte Ergänzung zur Illustration. Mit seiner Arbeit holt Lepage die Zwischentöne einer Atomkatastrophe ins Bewusstsein, die meist im Rahmen von medialer Berichterstattung untergehen. Und sie bricht das auf, was meist in der Flut neuer Nachrichten verloren geht: die Aufarbeitung, die Folgen, denn wie immer geht das Leben weiter. Irgendwie. 🙂
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