Es ist kein Dschungel, nur ein Treibhaus, eine Simulation inmitten der Zivilisation. Doch hier fühlt sie sich wohl. Hier darf sie so sein, wie sie mag, wie sie es gelernt hat. Und ihr unfreiwilliger Gastgeber lässt sie, unterstützt sie sogar. Sie legt irgendwann die Waffen ab, zieht ein Kleidungsstück an und liest ein Buch. Ein Buch? Wie lange mag es her sein, dass sie ein Buch so nahe gesehen hat? Dass sie sich mit ihm Stunde um Stunde beschäftigte? Eine Ewigkeit muss seither vergangen sein, so scheint es und so ist die Ruhe, mit der sie sich nun zu beschäftigen weiß, ein gutes Zeichen.
Was kann der menschliche Geist aushalten, bevor er sich dazu entschließt, dass es einfacher ist, wieder zum Tier zu werden? Denis-Pierre Filippi hat einen Comic-Charakter geschaffen, der immer aufs Neue von der Vergangenheit eingeholt wird und trotz aller Bemühungen in die, nach menschlichen Maßstäben, Barbarei zurückfällt. In der zweiten Folge führen die Comic-Macher das eher ungewöhnliche Konzept fort, nicht nur zwei Handlungen parallel zu erzählen, sondern die eine Hälfte auch gänzlich ohne störenden Text ablaufen zu lassen. Nach dem die erste Folge ziemlich rätselhaft war und viele Fragen offen ließ, lüften sich die Vorhänge in der zweiten Folge deutlich.
Gewalt ist der Schlüssel. Gewalt hat hier zu einer Verwandlung geführt. Gewalt soll ein Geheimnis schützen. Gewalt soll die Rache transportieren und es ist beinahe egal, wen sie letztlich trifft. Die beiden Ermittler, John Lord und Clara Summers, arbeiten sich Stück für Stück, Information für Information, Indiz für Indiz weiter vor, doch es nicht leicht für sie, die Spuren und Funde zu einem ganzen Bild zusammenzupuzzeln. Auch für den Leser ist es nicht leicht, der Spur zu folgen, obwohl er mehr weiß als John Lord und dessen Kollegin. Ein wenig offenbart sich hier eine ähnliche Erzählstruktur wie in Memento, ohne wirklich rückwärts gewandt zu sein.
Es fällt schwer, sich der eigentlichen Hauptfigur zu entziehen, die den Sprung auf das Titelbild geschafft hat. Es fällt auch schwer, diese Figur zu verteufeln. Einerseits konnte man im ersten Teil ihre Kindheit erleben, das Schicksal sehen, dem sie so gerade eben entgangen ist und dem sie eine bestimmte Art doch verfiel. Zuerst scheint alles auf eine Besserung hinzudeuten, auch auf den Wunsch zur Veränderung, eine Rückbesinnung auf menschliche Werte, die doch einmal vorhanden waren und das Leben bestimmten. Patrick Laumond verleiht den Figuren in dieser Folge noch mehr Format und weiß besonders mit jener tragischen Gestalt, um die sich alles dreht, hervorragend umzugehen.
Der Wandel der Figur, die sich bemüht, auch in ihre Rolle zurückfindet, nur um einen furchtbaren Rückfall zu erleiden, ist grafisch toll umgesetzt. Für einen Zeichner dürfte es im Medium Comic die Herausforderung bedeuten, wenn Text nicht mehr zur letzten Erklärung bereitsteht und das Bild als alleiniger Informationstransport herhalten muss. Hier gibt es sogar mehrere Ebenen zu beachten. In kleinen Gesten, Haltungen, Mimiken verbergen sich die Informationen. Manches geschieht (gnädigerweise) aus der Ferne, anderes wird wie vor ein sinnbildliches Mikroskop gezerrt. Abscheu oder Mitleid? Dieser Frage wird der Leser beständig in der textlosen Handlungslinie ausgesetzt.
Daneben entwirft Patrick Laumond in der Welt rund um John Lord eine Übergangsphase von Spätwestern und früher Moderne. Von der Wildnis in den optischen Osten der Vereinigten Staaten, in den tiefen Süden hinein, wo der mit der Waffe in der Hand das Sagen hat. Das ist stimmig, düster, auf dokumentarischen Realismus angelegt, der durch die feine, manchmal etwas verwischte Kolorierung von Sebastien Gerard auf das Beste verstärkt wird.
Krimi, Drama, Mystery. Der zweite Teil von John Lord funktioniert auf mehreren Ebenen und besetzt innerhalb des Mediums Comic eine seltene Nische. Gerade deshalb und wegen seiner schönen grafischen Ausführung sollten Comic-Fans, die sich z. B. mit dem Film Noir gut unterhaltne fühlen, einen Blick riskieren. 🙂
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