Er ist gerade in Papeete gelandet. Er wird nur nach dem Namen gefragt. Und er hätte besser nicht Ja gesagt. Dann wäre ihm die Tracht Prügel, die eigentlich für seinen Vater gedacht war, erspart geblieben. Am besten wäre er gar nicht erst auf die Idee gekommen, diese Reise zu übernehmen. Am besten hielte er sich von allen Frauen, besonders den freizügigen, fern. Von eifersüchtigen Ehemännern, ob berechtigt oder unberechtigt, natürlich auch. Ach, am besten wäre er erst gar nicht Taucher geworden, dann wäre ihm so mancher Ärger erspart geblieben. Aber dann wäre auch nicht das Prickeln da, im Angesicht der Gefahr, wenn sich etwas aus der Dunkelheit schält, auch nicht die wenigen Freunde und dieses verdammt tolle Haus, in dem er sich doch so selten aufhält.
Der Narwal ist ein ungewöhnlicher Mann. Er begibt sich in die irrsinnigsten Situationen, riskiert Kopf und Kragen und lässt es noch zu, von seinem Vater einen Schwinger einzufangen. Robert Narwal taucht überall, wo Wasser ist, selbst in der Wüste, wenn es sein muss. Olivier Supiot hat sich für seine Kurzgeschichten eine starke Figur ausgedacht. Ein kompromissloser Abenteurer und Profi, dem Alkohol und Frauen nicht abgeneigt, mit pechschwarzem Haar und abstehenden Ohren und jemand, der Humor hat und sich selbst nicht immer ganz so ernst nimmt. Und ein echtes Überlebenswunder.
Das Album Der Narwal mit dem Untertitel Der Mann aus der Tiefe bildet keine durchlaufende Geschichte ab, vielmehr erzählt Olivier Supiot in Episoden, die, aneinandergereiht, binnen kurzem ein Gesamtbild der Person Narwal ergeben. Ein paar Figuren kehren wieder. Prägend in dieser Form ist Napoleon Narwal, Roberts Vater, die sich beide zueinander verhalten wie ein alter zu einem jungen Robert Wagner. Mit der grafischen Stilistik befindet sich Boris Beuzelin in guter Gesellschaft zu Künstlern wie Mike Mignola und Guy Davis, wirkt also eher amerikanisch als europäisch. Das sind einfache Linien, auch mal fette schwarze Schatten, in jedem Fall klare Bilder, die ihre Wirkung auch aus einem gesamten Seitenaufbau erzielen, der sehr künstlerisch aussieht.
Die Erzählweise und die Bildtechnik greifen Hand in Hand. Einerseits ist es durchaus ein wenig an Pulp angelehnt, da es einem groschenromanähnlichen Muster folgt. Andererseits besitzt es auch literarische Tiefe, da es auch mit der Schnoddrigkeit von Nick Adams Stories daherkommt, den berühmten Subtext hat und gleichzeitig Themen anpackt, die phantastisch, kriminalistisch, einfallsreich und auch zeitweilig kritisch sind. Der Narwal, ein junger Mann mit quadratischem Gesicht, den bereits erwähnten abstehenden Ohren und einem Haarschopf, der ihm wie eine schwarze Mütze zu Berge steht, ist ein Produkt eines feinen frankophonen Erzählers, der, so scheint es, jedes Bild, jeden noch so kleinen Text auf das Nötigste reduziert hat. Im Endergebnis sind sehr dichte Kurzgeschichten entstanden, denen ganz einfach nichts fehlt. Oder: Hier ist weniger tatsächlich noch viel mehr.
Eine ungewöhnliche Abwechslung: Vom Meer in die Kanalisation, in dunkle Gefilde, auch an Land in einer Geistergeschichte, auf dem Ozean in eine Geiselnahme. Das hat, will man eine Mischung ausmachen, etwas vom Lebensgefühl eines Nestor Burma und von den Abenteuern eines Largo Winch. Die Atmosphäre um diesen teils knurrigen jungen Mann ist sofort aufgeheizt, wenn er die bildhafte Bühne betritt. Meistens können ihn die anderen nicht leiden und Der Narwal ist gezwungen, sich nicht nur gegen widrige Umstände zu behaupten.
Eine Mischung aus Abenteuern, Thrillern und Kriminalgeschichten. Aus einer Vielzahl der Erzählungen hier würden andere Romane oder Filme machen. Olivier Supiot ist ein Meister der Reduzierung. Er überlässt es dem Leser, die Lücken im Geiste zu füllen. Am Ende ist die Handlung gefüllt viel größer. Klasse. Die Zeichnung sind eigen, künstlerisch, flott und fügen sich dem großen Ganzen. 🙂
Der Narwal, Der Mann aus der Tiefe: Bei Amazon bestellen