Einheit 4 fürchtet sich nicht vor der Verwendung der realen Namen. Einheit 4 will den Zustand der Gefangenschaft nicht als von Gott oder höheren Mächten gegeben hinnehmen. Einheit 4, Isabel, will hier raus. Furcht ist nicht der einzige Antrieb, aber es ist der Antrieb, der alsbald schon den Kreis der Einheiten verlässt und auf die Berater übergreift. Ein geschlossenes System steht niemals für sich allein. Die einschließenden Mechanismen gehören dazu, mögen sie sich noch so sehr abgrenzen oder distanzieren wollen. Wer beobachtet die Beobachter? Das ist keinem so richtig klar. Es werden Instruktionen ausgegeben und diese werden befolgt. Ohne Widerspruch.
Eine falsche Hoffnung. Isabel will die ihre nicht aufgeben. Ein Fluchtversuch folgt dem nächsten. Immer wird sie gefasst, landet in einer Sackgasse oder erhält die totale Ernüchterung, die ihr die Ausweglosigkeit der Lage aufzeigt. Doch plötzlich keimt eine Hoffnung, die sich als echte Chance herausstellen könnte. Richard Marazano ist ein recht gemeiner Autor, der mit seinen Charakteren tatsächlich wie mit Versuchsmäusen spielt. Und damit sind alle vorkommenden Charaktere gemeint. In der Welt drinnen wie auch draußen. Nachdem sich die Verfahrensweisen innerhalb des Gefängnisses eingespielt haben, die Bedrohung für die Insassen einschätzbar geworden ist und ihnen sogar gewisse Freiheiten der Kommunikation zugestanden wurden, wendet sich da Blatt auf einmal völlig. Freiheit. Alle Kameraden und Berater sind verschwunden.
Die Ausgangslage des ersten Bandes verschärft sich. Hatte der Leser Gelegenheit, für eine Seite Partei zu ergreifen (für die der Gefangenen natürlich), verschleiert Autor Richard Marazano die Anfangssituation mit einem schönen Trick. Plötzlich, nachdem man als Leser auch dachte, man wisse, wo der Hase lang läuft, gewinnen die Gefangenen Freiheiten, die sie zunächst auch zwischen Ratlosigkeit und Verwirrung hin und her wechseln lassen. Das ist sehr ausgeklügelt erzählt und kann sich mit entsprechend verschachtelt erzählten TV-Blockbustern (Fernsehserien mit Suchtfaktor) auf Augenhöhe messen. Überhaut wird man den Verdacht nicht los, als habe sich Marazano moderne mediale Erzähltechniken angeeignet, um diese dunkle Science-Fiction-Geschichte zu kreieren. Erzählen hat eben auch viel mit Handwerk zu tun.
Alles bloß ein Test? Ein Wissenschaftler löst Rubiks Zauberwürfel, jenes zeitlose Spielzeug zur Beförderung logischen Denkens, während er kühl über die wissenschaftliche Arbeit von Gefangenen und die Verwendung von Placebos doziert. Überwachungskameras laufen, die Daten werden aufgezeichnet. In grünlichem Licht entsteht eine unterweltliche Stimmung, weniger wissenschaftlich als verkappt höllisch. Jean-Michel Ponzio hält die hohe grafische Qualität bei, lässt die Realität in wahnhafte Bilder abgleiten, bis ein paar Worte fallen, die sich im Zusammenhang mit Wissenschaft eigentlich verbieten.
Die Stimmung, nicht farblich, dafür in den Mienen der Einheiten, die ihre Gefängniszellen verlassen, wird heiterer, aufgeregter, hoffnungsvoller, als sei nach der Apokalypse eine Zeit des Aufbruchs gekommen. Man organisiert sich verhalten und auch nicht einheitlich. Dank Jean-Michel Ponzio hat man als Leser zeitweise den Eindruck eines Kaleidoskops. Menschliche Gesichter bilden einen Querschnitt verschiedenster Emotionen, die, je mehr Ponzio mit Licht und Schatten spielt, immer eindringlicher werden und dem Leser jeden Abstand nehmen.
Wäre es ein Theaterstück, wäre es beste Studioatmosphäre, fast ebenso ein Experiment, mit dem Leser ebenfalls in der Riege der Einheiten. Nur selten ist man als Leser so nah dran. Die Charaktere fesseln, diejenigen, die sich noch mehr entblößen als andere, reißen mit. Mit einem Hinweis von Richard Marazano, auf Leon Festinger, gibt der Autor auch gleichzeitig einen Hinweis, welche Theorien dieser Geschichte zugrunde liegen. Einmal mehr ein intelligentes Thema, in diesem Fall dramatisch, anschaulich (im Wortsinn) verpackt.
Unglaublich gut, aber keine leichte Comic-Lektüre, die mal eben so gelesen werden will. Sicherlich typisch Marazano, aber auch näher am einzelnen Charakter und näher am Leser. Tolle Science Fiction im besten Sinne eines frühen Michael Chrichton mit einer Spur Arthur C. Clarke. 🙂
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