Dienstag, 10. Juli 2012
Dein Wille geschehe. Was nun? Wohin geht es? Nach den Ereignissen der letzten Zeit, interner Streitigkeiten, Kämpfe gegen Untote, Schwierigkeiten beider Gruppen, die nur sehr verhalten zusammenwachsen, ist es für alle Beteiligten schwer, neuen Halt und eine Richtung für das Leben zu finden. Normalität ist schon lange kein Ziel mehr. Sicherheit hat oberste Priorität. Die Sicherheit der Siedlung muss gewährleistet sein. In dieser Sicherheit jedoch, auf die bislang alles ausgerichtet war, stellt sich die Frage, was es da noch gibt. Kann der einzige Zeitvertreib darin bestehen, zu trainieren, wie man am besten einen Zombie endgültig erledigt?
Und was ist mit all den Sünden, die fast jeder auf sein Gewissen geladen hat auf dieser langen Reise bis in diese kleine Siedlung, die wie die letzte Bastion der Menschheit erscheint? Mit all den Dingen, die man tat, den Menschen, die man verlor? Mit den Menschen, um die man bangt? So wie Rick Grimes, der ehemalige Polizist, dass sein Sohn die Schussverletzung am Kopf überlebt und aus dem Koma erwacht. Rick grämt sich so sehr und wähnt sich so allein in seinen Ängsten, Sorgen und Zweifeln, dass er am Telefon, das schon lange nicht mehr funktioniert, mit seiner verstorbenen Frau spricht. Der Wahnsinn klopft an die Tür. Er meldet sich in dieser von den Untoten regierten Welt nicht zum ersten Mal. Und bestimmt nicht zum letzten Mal.
Robert Kirkman lässt eine trügerische Ruhe einkehren. Die Untoten sind zu einer standardisierten Bedrohung geworden, einschätzbar wie Raubtiere. Die Menschen verabschieden sich von ihren Lieben und begraben ihre Toten. Und plötzlich gibt es viel mehr Zeit zum Nachdenken als sonst. Horror gibt es in der 15. Episode der Erfolgsserie The Walking Dead, die es mit ähnlichem Erfolg sogar auf den Fernsehschirm geschafft hat. Die Ernsthaftigkeit, mit der das Thema von Robert Kirkman angegangen wurde und immer noch wird, der Einsatz von realen Problemen vor dem völligen Niedergang der Zivilisation, macht den Reiz dieser Geschichte aus. In dieser Ruhephase, die allerdings für alle Charaktere nur eine mäßige Erholung bringt, erkennen die Figuren ihre eigene, innere Zerstörung.
Die psychische Aushöhlung, weitaus mehr als nur ein Burnout, lässt sich nicht therapieren, reparieren, zukleistern oder sonstwie wieder herrichten. Rick Grimes, die Hauptfigur, die stets aufs Neue zum Anführer wurde (obwohl sie nicht danach verlangte), stellt fest, dass sie bereits vor langem selbst gestorben ist. Gäbe es nicht den Sohn, für den der Vater weiterleben muss, hätte er sich längst verabschiedet. Diese Schlussfolgerung legt Kirkman dem Leser nahe und vor den neuen Problemen, die so langsam offen und versteckt aus den seelischen Abgründen an die Oberfläche gelangen, ist Rick Grimes nur allzu gut zu verstehen.
So ist die vorliegende Episode mehr ein inneres Drama, mit gewalttätigen Auswüchsen gegen Untote, aber auch zwischenmenschlich. Der Druck, die Belastung, zu einer aussterbenden Spezies zu gehören, walzt einfach viele zivilisatorische Bedenken nieder. Von Charlie Adlard, dem Zeichner, der sich nicht in vielen Action-Szenen äußern kann, hängt bei der Darstellung der gezeigten Gefühle viel ab. Da die Serie weiterhin in Grautönen präsentiert wird, ist auch ein Rückzug auf farbliche Mittel und Eindrücke nicht möglich. Der Fall von Schatten, die Haltung eines Kopfes, der Ausdruck von Augen und Mündern gibt sehr guten Aufschluss über das, was Kirkman zwischen den Zeilen erzählen will.
Der Niedergang der Zivilisation am Tiefpunkt. War Überleben das oberste Ziel, stellt sich nun die Frage, was nun weiterhin geschehen soll. Welchen Sinn das Überleben überhaupt noch macht. Man darf gespannt sein, wie Kirkman und Adlard ihre Helden aus diesem tiefen Tal herausführen werden. 🙂
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Montag, 09. Juli 2012
Haltet die Diebe! Der Ruf verhallt in der Nacht. Ariane de Troil, soeben Mutter geworden, kann sich, kraftlos wie sie ist, nicht mehr auf den Beinen halten. Von ihrer Hebamme gestützt muss sie den entfliehenden Ganoven, die ihren neugeborenen Sohn stahlen, machtlos hinterherschauen. Aus der Verzweiflung wächst Entschlossenheit. Ariane will nicht aufgeben. Ihr ist durchaus bewusst, wie schwierig sie es haben wird, ihren Sohn wiederzufinden. Einigen in den Reihen der Mächtigen ist das Geheimnis der Vaterschaft des Kindes bekannt und diese Personen werden alles daran setzen, Ariane das Kind auf immer zu entziehen.
Hass, Intrigen und Hochmut, Gier nach der absoluten Macht treiben die Drahtzieher im Hintergrund an. Selten halten sie selbst den Kopf hin. Falls doch, sind sie entweder zu jung oder zu dumm, um es besser zu wissen. Ariane trifft auch auf Gegner, die mit ihr die Klinge kreuzen wollen, im Glauben, Ariane verstünde nicht mit dem Degen umzugehen. Ein törichter Fehler, wie es sich bald erweisen wird. Leider ist es auch einer der wenigen Fehler, die der scheinbar allmächtige Feind im Hintergrund begeht.
Patrick Cothias beschreibt das Leid einer Mutter, die kaum eine Möglichkeit hat, sich gegen ihre Feinde durchzusetzen. Ariane de Troil gibt nicht auf, doch gewinnen kann sie wahrscheinlich nicht. Wer kann das sagen? Schließlich ist die Serie noch nicht an ihrem Ende angelangt. Andererseits beschreibt Cothias die Feinde Arianes von unglaublicher Selbstsicherheit durchdrungen, einem Gefühl, das weit über die normale Arroganz jener adeligen Kaste hinausgeht. Marco Venanzi zeichnet diesen Hofadel mit allen nur denkbaren Nuancen in den Gesichtern. Durch ihn gewinnen die einzelnen Figuren, selbst jene, die nur einen Auftritt haben, an Volumen und verleihen dem gesamten Szenario eine enorme Lebendigkeit.
Die schwarze Witwe, der 9. Band der Reihe Der rote Falke, reißt das Seelenleben, auch das jener Bösewichter, aus den Figuren an die Oberfläche. Cothias und Venanzi entlocken ihren Figuren alle Schwächen und Begierden, Ängste und auch den Mut. Neben Ariane de Troil und dem König höchstselbst sticht hierbei besonders die Baronin de Rohan-Montbazon hervor, die dem Leser auch gleich bei der Ansicht des Titelbildes (ganz in schwarz gekleidet) ins Auge fällt, ist doch sie es, die mit Ariane die Klinge kreuzt.
Und es sind nicht nur Frauen, die von Cothias und Venanzi ins Gefecht geschickt werden. Arianes getreuer Aufpasser Germain (nicht immer zur Stelle, wenn er gebraucht wird, aber immerhin) stellt sich einer Horde von Meuchelmördern entgegen und kämpft in bester Manier einer romantischen Abenteuergeschichte gegen die Ganoven. Hier findet sich in der Erzählung wie auch optisch jenes Augenzwinkern wieder, das Filme wie Cartouche oder auch Scaramouche ausmachte. Bei aller Tragik darf der Schelm nicht fehlen.
Gleichzeitig ist dank Marco Venanzi dieses Abenteuer auch ein schöner Zeitreiseblick in ein historisches Paris, ein wahrer Kostümaufmarsch und farblich einhergehender bunter Reigen. Vermischt mit historischen Fakten ergibt sich so ein perfekter Unterhaltungscomic, wie er (anscheinend) nur aus dem frankobelgischen Raum kommen kann.
Theatralisches Drama, opulentes Abenteuer mit Mantel und Degen, mit Intrigen und Verzweiflung, sehr schön illustriert, einer der besten Bände der erfolgreichen Reihe. 🙂
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Donnerstag, 05. Juli 2012
Dezember 1624. Paris ist ein gefährliches Pflaster. Für eine junge Frau kann die winterlich verschneite Stadt schnell das Ende bedeuten. Aber Ariane de Troil ist keine normale junge Frau. Bestens ausgebildet im Umgang mit dem Degen weiß sie sich besonders in der Gestalt ihres anderen Ichs zu wehren: als roter Falke. Während sie Paris auf den Weihnachtsabend vorbereitet, hat eine Geheimgesellschaft es sich zur Aufgabe gemacht, Paris dem Untergang zu weihen. Einem durchtriebenen Plan folgend agiert die Gauner im Untergrund und kommen ihrem Ziel tatsächlich sehr nahe. Der rote Falke ist den Männern des Geheimbundes auf der Spur, die Tragweite der Verschwörung überrascht aber selbst sie. Ob der rote Falke dieses Mal mit dem Leben davonkommt? Immerhin ist er schon einmal gestorben.
In kleinen Episoden, mit hoher Spannungsdichte, lässt Patrick Cothias seine Heldin dem Geheimnis Stück für Stück näher kommen. Paris wird, wie in klassischen Romanen und Filmen, zum Abenteuerspielplatz für Helden und Ganoven mit Mantel und Degen. Die Katakomben von Paris, bereits auf dem Titelbild der zweiten Ausgabe des roten Falken mit Friedhof der Unschuldigen bezeichnet, werden zum Spielort einer Jagd auf Zeit, die neben klassischer Spannung auch entsprechenden Humor aufweist, wie ihn der Genre-Freund aus Die drei Musketiere mit Gene Kelly her kennen mag.
Für den Humor ist der stämmige Begleiter von Ariane, Germain, ein Trunkenbold, aber auch ein guter Fechter, der nicht mit Nachdruck, dafür jedoch mit wenig Fingerspitzengefühl in die Handlung hineinstolpert und dem roten Falken eher zufällig behilflich ist. Cothias nimmt den Leser nicht nur mit in die Straßen und Katakomben der französischen Hauptstadt. Auch in den Kerker wie in das winterliche Umland, in die freie Natur führt der Weg des roten Falken. Bei letzterem Erlebnis ist das große Abenteuer bereits zu Ende, doch die Abwechslung in den Ideen von Cothias macht auch aus der abschließenden Episode, nicht näher betitelten Handlung, einen Epilog und ein Zuckerstückchen abenteuerlicher Unterhaltung.
Andre Juillard zeichnet mit zielsicherem, aber auch ungeheuer zartem Strich. Seine Charakterköpfe, in ihrer Wirkung noch einmal gereifter als im ersten Band, machen auch vor Experimenten nicht Halt, betrachtet man Kopf und Gestalt des Kerkermeisters, der fast eine Karikatur ist, aber durch seine Bedrohlichkeit ernst genommen wird. Die Kampfszenen und Bildeinstellungen, kameragetreu, machen Spaß und entfalten eine schöne filmische Rasanz, in denen Juillard den Humor dieser Abenteuer auch wortlos weitergibt. Diverse Szenen in den Katakomben sind perfekte Beispiele wie auch der Ritt auf dem Hirsch, der eine der schönsten Szenen einläutet.
Farblich ist Der rote Falke auf Atmosphäre ausgerichtet und folgt damit den Techniken, die sich in den 60ern und 70ern etabliert haben. Schatten werden über Tuscheflächen geschaffen. Farben schaffen Lichtverhältnisse wie für das Zwielicht der Nacht, dem Fackelschein in Gewölben. Auf Verläufe wird im Sinne von schlicht ausgefüllten Flächen meist verzichtet. Die Optik leidet darunter nicht, im Gegenteil lässt die klare, oft strahlende Farbgebung die Zeichnungen erst so richtig zur Geltung kommen.
Der rote Falke macht sich noch mehr Feinde: beste Abenteuerunterhaltung mit Mantel und Degen. Durchdacht, witzig und spannend, ein junger Klassiker. 🙂
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Montag, 02. Juli 2012
Ein knallhartes Rennen: die Tour de France. 4500 Kilometer durch Frankreich, über normale Straßen, aber auch solche Wege, die durch ihre Buckelpisten, Schlaglöcher, Schotter und Geröll den Namen Straße nicht einmal verdienen. Die Teilnahme an diesem Rennen kann sogar lebensgefährlich sein. Als das Rennen im Jahr 1903 ins Leben gerufen wird, ahnt noch niemand den Erfolgskurs, den die Tour im Laufe der Jahre nehmen wird. Antoine Fario ist im Juli 1907 bei der Armee. Der Befehl lautet, das Observatorium auf dem Berg mit Baumaterial zu versorgen. Der Aufstieg ist beschwerlich, schult Antoine aber zeitig für seine kommende Aufgabe.
Diese, der des Lastenträgers, übernimmt der vom Radsport infizierte Antoine nur aus einem Grund: genügend Geld zu sparen, um sich ein eigenes Rennrad kaufen zu können, um damit an der Tour de France teilzunehmen. Die Beschwerlichkeiten, die Antoine für dieses Ziel in Kauf nimmt, stellen seine Beharrlichkeit auf die Probe. Selbst als es ihn das Leben kosten könnte, gönnt er sich keine Pause. Im tiefsten Winter, am verschneiten Berg, in dunkler Nacht rettet Antoine sich in höchster Not in eine Hütte. Am nächsten Tag, von Bekannten und Freunden in Sicherheit gebracht, scheint sein Traum niemals mehr in Erfüllung gehen zu können. Doch Antoine kämpft und gibt nicht auf.
LAX ist ein Erzähler, der sich hier mit einem zunächst unscheinbaren Thema befasst, in dem sich jedoch eine immer stärker werdende Dramatik ausbreitet. Ein Mann setzt alles (wirklich alles) daran, seinen Traum wahr zu machen. In einer Zeit, in der sich Ruhm noch über Zeitungen verbreitete, erkämpft sich ein Mann sein Ziel und wird zum Adler ohne Krallen. Bei Betrachtung der Geschichte, der herrlich nostalgischen Bilder, versucht man als Leser natürlich Vergleiche anzustellen. Wie sehr haben Technik, Trainingsmethoden und Sportmedizin eine Sparte des Rennsports nach vorn gebracht und wie groß muss angesichts dieser Verbesserungen (vom Doping einmal abgesehen) die Leistung der Pioniere jenes weltberühmten Rennens geachtet werden?
Es ist eine zunächst einfache Welt, die LAX beschreibt. Im Gebirge sind die Träume klein, sie gipfeln in einer guten Familie, einem beruflichen Auskommen und selten in sportlichen Höchstleistungen. So ist zu Beginn weder für den Leser noch für die Hauptfigur absehbar, wie dieser Antoine Fario einmal über sich hinauswachsen und den Respekt von Radrennkollegen und Franzosen auf sich lenken wird. LAX beschreibt anfangs die Freundschaft zwischen Antoine und dem Astronomen Camille. Camille wird schließlich die brüderliche Stütze sein, die Antoine wieder Mut macht.
So gelingt es LAX eine zutiefst menschliche Geschichte zu erzählen, bis er zu den Leidenschaften und der Mühsal eines Sportlers gelangt, der die Leistung über das leibliche Wohl stellt. Doch ist es gerade diese Einstellung, die die Presse schließlich nach Antoines ersten größeren Erfolgen dazu veranlasst, Antoine den Beinamen Adler von Esponne zu geben, werbewirksam und voller Hochachtung. LAX skizziert die Handlung wie ein beobachtender Zeichner. Er legt Charakter in die Gesichter, Ausdruck in die Haltungen. Distanz gibt es nicht. Der Zeichner nimmt den Leser hautnah ins Geschehen, über die Schulter von Antoine blickend, an die Rennstrecke.
Die Linien sind dünn, die Figuren zerbrechlich, die Farben stützen den Blick in eine Vergangenheit, wie sie der Leser von alten Fotografien, vielleicht Gemälden her kennt. Aber auch der Strich erinnert an diese Zeit, passt hier besonders gut mit seiner zurückhaltenden Wildheit, der Schnelligkeit, auch der Freundlichkeit, mit der LAX seine Figuren findet.
Eine Geschichte, die mit großem Fingerspitzengefühl für den Zeitgeist und die vorkommenden Charakteren erzählt wird. Antoine Fario, der alles für seinen Traum bereit ist zu geben, wird sehr einfühlsam geschildert und (wie alles um ihn herum) gezeichnet. Für Freunde historischer und zutiefst menschlicher Szenarien eine sehr schöne und anrührende Geschichte. Bemerkenswert schön. 🙂
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Alexej Iwanowitsch liebt Polina. Polina aber, die Stieftochter des Generals, ist berechnend. In ihrer Welt ist Liebe eine Illusion, auch eine Währung, aber Liebe, so hat sie es gelernt, ist niemals einfach nur Liebe. So steht denn bei der Wahl des Verehrers, des Siegers um das Wettrennen mit dem Ziel Ehe, auch nicht nur Stattlichkeit im Vordergrund. Geld ist der Antrieb. Für den General, der bereits alles verpfändet hat, was er nur zu verpfänden hatte, ist Polina eines der letzten Tauschobjekte. Und die junge Frau selbst ist längst in dieser Welt aus Taktiererei und Gier gefangen. Die ehrliche Liebe, mit der sich Iwanowitsch zum Narren macht, ist für sie ein Störenfried, eine Ablenkung, eine Puppe, die unter den ungeschickten Händen eines Kindes ihren Kopf verliert.
Die russische Seele ist voller Schwermut und Weltschmerz. Sie giert nach Liebe und Leben und verliert sich in den Sehnsüchten, während das Leben an ihr vorüber zieht. Dies wäre ein Fazit der vorliegenden Geschichte nach der Vorlage eines Romans von Fjodor Dostojewski mit dem Titel Der Spieler. Alexej Iwanowitsch ist ein Hauslehrer, der aus Liebe zum Spieler wird, vielleicht die Sucht schon in sich trug, vielleicht angesteckt wurde. Am Ende, einem sehr bitteren Ende, mit einem boshaften, auch sezierenden Blick auf die menschliche Seele, nicht ausschließlich die russische, spielt all das keine Rolle mehr. Autor Stephane Miquel adaptiert den berühmten Roman Dostojewskis für das Medium Comic. Loic Godart vermittelt Zeitgeist und Atmosphäre mit einer Optik, die aus der Schule eine Otto Dix entstammen könnte.
Als Leser, der nach Identifikationsfiguren sucht, hat man es sehr schwer in dieser Geschichte. Vielleicht entdeckt man Ähnlichkeiten in diesen Figuren, zu sich selbst oder zu anderen. Es ist, möchte man behaupten, eine Gesellschaft voller Lebensüberdruss, in der das Risiko im Spiel gesucht wird. Das eigene Schicksal wird vom Verlauf der Kugel (auch im doppelten Sinne) abhängig gemacht. Alels wird auf eine Zahl, eine Farbe oder die Null gesetzt. Für jene Spieler steht am Ende der Verlust des Vermögens, des Selbstwerts, des Lebenssinns. Gewinner sind die Zuschauer am Rande, die sich nicht weiter einmischen, die ein bürgerliches Leben führen, das den Spielern zu schnöde ist.
Alle warten auf den Tod. Eigentlich auf den Tod einer Erbtante, denn ihr Vermögen soll der Retter in der Not sein. Doch die Tante stirbt nicht (zunächst), kommt vielmehr nachsehen, wo denn ihre Verwandten ihr Leben fristen und verfällt selbst der Spielsucht, die den Einstieg wie jede Sucht allzu leicht macht. Die Verfremdung in Form und Farbe, die Dank der Kunst von Loic Godart das Seelenleben der verschiedenen Charaktere gnadenlos enthüllt, lässt einen Alptraum entstehen. Die Menschen sind hier eher Zerrbilder, wie in einem Spiegelkabinett. Sie sind einfach, tragen ihren Charakter im Gesicht, in der Haltung, im irren Blick oder in ihrer Verlorenheit. Nicht viele gehen stark durchs Leben. Die meisten sind im dünnen Strich, der kargen, stets atmosphärischen Farbgebung der Schwäche und der Depression preisgegeben.
Vielleicht (ein sehr großes Vielleicht) möchte der Leser Mitleid mit den Figuren haben, doch sie sind alle zu große Egoisten, Egomanen, als dass einem dies gelingen könnte. Selbst der Hauslehrer Iwanowitsch, der das Treiben durchschaut, spielt seine Rolle weiter und weiter bis zum Untergang. Obwohl es sich um das Roulettespiel dreht, ist es eher russisches Roulette, bei dem der Hauptspieler ein seltsames Glück hat, am Ende noch auf den Beinen zu sein.
Das Schlimmste aber, oder das Wundersamste, ist dies: Bis heute kann ich mir mein Verhalten nicht erklären. So berichtet es Alexej Iwanowitsch gleich zu Beginn. Nach der Lektüre kann der Leser dieser Aussage nur folgen. Mag er seine Ideen haben, so bleibt es doch beim Kopfschütteln über diese Menschen, die wie Kaninchen angesichts von aufblendenden Scheinwerfern auf der Straße verharren und sich überfahren lassen. Neben all Lupenblicken auf die Charaktere ist es auch eine Schau einer Epoche, einer besonderen Schicht, gesellschaftlicher Aspekte und kultureller Eigenschaften, die von Godart in unbequemen Bildern gezeigt werden.
Eine hoch depressive Gesellschaft, gefangen in der eigens konstruierten Tragik: Stephane Miquel und Loic Godart transportieren den Roman Der Spieler von Dostojewski ins Medium Comic mit einer ungewöhnlich ernsthaften und enorm tragischen Handlung. Ambitioniert, dicht. 🙂
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