Niemand hat diesen Fund in Indien erwartet, noch dachte jemand, der uralte Vampir würde jemals wieder auftauchen. Nachdem man ihn vernichtet glaubte, blieb er verschwunden. Jahrzehntelang. Doch mit der neuen Bedrohung durch dieses mächtige Wesen wächst auch die Angst. Vieles haben sich die Vampire in der Vergangenheit aufgebaut. Sie haben Reichtümer angehäuft und ihren Platz gefunden. Der alte Vampir könnte all die Errungenschaften an sich reißen oder auch zerstören, falls er mit ihnen nichts anzufangen weiß. Sein Auftauchen in Indien kann letztlich nur eines bedeuten: Krieg. Und so rüsten sich beide Seiten, denn Nosferatu ahnt den bevorstehenden Angriff.
Olivier Peru kennt das Horror-Genre, wie er mit Zombies unter Beweis stellen konnte. Hier zeigt er ein weiteres Mal, wie er bekannten Themen neue Seiten abgewinnen kann. Nosferatu, der Ur-Vampir, hier augenscheinlich zu Zeiten des Römischen Reiches aktiv an den Machtverstrickungen beteiligt, ist bereits einmal besiegt worden, weil er sich und seine Macht überschätzte. Ausgerechnet eines seiner Kinder hat ihn aus Rache zur Strecke gebracht. Oder besser: Liebe war der Grund.
Peru stattet seine Wiedergänger mit allen Leidenschaften aus, wie sie der Vampir-Fan heute bereits erwartet. Außerdem mag der Leser in der Ausgangssituation, nämlich der eines Vampirs, der sich in den Slums unter Ausgestoßenen neue Anhänger sucht, Parallelen zur Neuentwicklung eines Dr. Doom sehen, wie er bei den Ultimativen F4 die Comic-Welt neu erblickte. Am Ende steht hinter dem Ur-Vampir eine (noch überschaubare) Armee. Der Wechsel aus dem Indien der Neuzeit, einem kurzen Sprung in die jüngere Vergangenheit und besonders ins Rom des Kaisers Caligula macht die gesamte Handlung sehr reizvoll, da durch neue Informationen, den wohl überlegten Sprüngen in der Geschichte, die Handlung nicht unterbrochen wird, aber mit unerwarteten Wendungen aufwarten kann.
Stephano Martino, der hier seinen ersten Comic vorlegt, arbeitet mit präzisem Realismus, sehr atmosphärisch gezeichneten Charakteren und eindringlichen Kulissen. Die düstere Kolorierung der Digikore Studios zeigt die Welt der Vampire, in der Dunkelheit, Zwielicht, starke Kontraste und Dämmerung vorherrschend sind. Selbst in neuzeitlichen Umgebungen ist das Licht eher schwach. Das ist durchaus passend, da beide Szenarien, jenes in Indien und in Caligulas Rom (von einigen anders platzierten Sequenzen abgesehen), einen Ausblick auf das Ende der Welt geben, vielleicht auch das Ende der Zivilisation, dort, wo das Wasser über den Rand fließt.
Der römischen Pracht und der Dekadenz, auch der Ländlichkeit stehen optisch die indischen Slums gegenüber. Es folgen die Szenen rund um die Vampirjäger (ja, es gibt noch eine dritte Partei im Spiel) in einer verhaltenen Mischung aus Blade, Indiana Jones und auch kleinen Büros. Vorrang haben eindeutig die Handlungsstränge der Vampire. Vampire sind die Hauptakteure. Abgesehen davon scheint es auch fraglich, wie Menschen sich gegen diese Übermacht behaupten wollen. Olivier Peru lässt da keine Zweifel aufkommen und die Zeichnungen von Stephano Martino, die die Vampire mit einer enormen Gewalt verbildlichen, stützen diese Aussage.
Der Übervampir: Ur-Vampir, Nosferatu, Halbgott. Diese Kreatur steht selbstverständlich im Zentrum des Interesses und der Leser darf verschiedene Entwicklungsstadien dieses Vampirs miterleben, die Auskunft darüber geben, welche Zerstörung dieses Wesen über sich ergehen lassen kann. Greift man diese Tendenz auf, stellt sich augenblicklich der gute alte Dracula ein, der cineastisch in Form von Christopher Lee auch immer einen Weg zurückfand.
Ein Vampir-Kracher im besten Sinne, einfallsreich, dramatisch erzählt, optisch von Newcomer Stephano Martino mit sehr exakten, naturalistischen Zeichnungen umgesetzt. Für Fans des Genres empfehlenswert. 🙂
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