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Comic Blog


Samstag, 02. Juli 2011

Das Nest 5 – Montreal

Filed under: Abenteuer — Michael um 19:09

Das Nest 5 - MontrealFrauen lassen sich nichts gefallen, schon gar nicht im kleinen Dorf Notre-Dame am See. Das hätte sich Marceau überlegen sollen, bevor er mit Marie ins Bett stieg. Clara, die Gehörnte, hat keine Probleme damit, ihrem Marceau als Ausdruck ihrer Enttäuschung die Faust mitten auf die Nase zu platzieren. Gegenüber Marie, der alsbald regelrecht vorgeworfen wird, diese Affäre angezettelt zu haben, verhält sie sich stiller, aber noch tiefer enttäuscht. Ein Mann ist ein Mann, aber eine Frau hätte es besser wissen sollen. Mehr noch: Eine Frau hätte ihre Triebe außerdem besser im Griff halten sollen. Niemand im Dorf sagt es offen, doch die Reaktion fällt entsprechend aus. Marie wird zur unerwünschten Person. Und was niemand erwartet hätte, geschieht: Marie nimmt diese Abneigung ernst.

Das Nest: Neudeutsch betrachtet, ist dieser Begriff heutzutage eher negativ besetzt. Es wirkt altbacken, hinterwäldlerisch. Früher war es eher heimelig. Ein Nesthäkchen wollte besonders umsorgt werden. Wer ein Nest baute, wollte sesshaft werden. 1925 kommt der Film Goldrausch von Charlie Chaplin in die Kinos. Es ist die Zeit, in der Marie nach Montreal fährt, weil dieses Nest ihr die Heimat verwehrt, weil sie mit einem jungen Mann ins Bett gegangen ist, der einer anderen bestimmt war. Moralvorstellungen brechen über Freundschaften zusammen. Moralapostel schwingen sich auf, um Gericht zu halten. Echte Freundschaften sind nicht stark genug, damit eine schützende Mauer gegen diese Anfeindungen entstehen kann. Marie verlässt ihr Zuhause, das Nest.

Montreal: Die fünfte Episode aus der Reihe Das Nest mit diesem Titel bringt einen außerordentlichen Umbruch, waren die Veränderungen bisher doch eher schleichend. Begann die Reihe mit dem Tod von Maries Ehemann, folgte die Bekanntschaft und Freundschaft mit Serge, den Marie vergeblich lieben lernte, so wird Marie nun dahin getrieben, alles hinter sich zu lassen. Das Nest bedeutet Sicherheit, aber auch Eintönigkeit. Marie, die einen für die Gemeinschaft so folgenschweren Fehler begangen hat, führt darüber hinaus den Dorfladen. Sobald sie dem Dorf und dieser Versorgungsschnittstelle den Rücken kehrt, findet sich niemand, um diese Lücke zu füllen. Serge betätigt sich lieber als Koch, denn als Ladenbetreiber. Außerdem hat er kein Automobil, mit dem er Nachschub für den Laden holen kann. Den einzigen Wagen hat Marie bei ihrer Abreise mitgenommen.

Regis Loisel und Jean-Louis Tripp, die hier als Autoren und Zeichner gleichermaßen arbeiten, bilden hier ein ungemein gut aufeinander abgestimmtes schöpferisches Duo. Regis Loisel zeichnet vor, Jean-Louis Tripp übernimmt die abschließende Feinarbeit. Sieht man einmal davon ab, dass bereits Loisels Vorzeichnungen schon so gut sind, dass sie für den Comic zu gebrauchen gewesen wären, ist hier eine Comic-Reihe entstanden, die dem Leser die Zeit für eigene Entdeckungen gibt und auch zumutet. Heißt: Loisel und Tripp nehmen ihren Lesern das Denken nicht ab. Sie sind einerseits meisterhafte Erzähler, andererseits pflegen sie auch das Weglassen. Durch das Gezeigte und Erzählte fügt sich das Weggelassene hinzu.

Doch selbst das Offensichtliche ist heiter und anrührend, auch nachdenklich. In dieser Geschichte, angesiedelt im Kanada der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts geht es nicht nur um die Bewältigung des täglichen Lebens mit den Einschränkungen jener Zeit, sondern auch um Themen wie Erfülltes Leben, Liebe, Tod, Sexualität im Allgemeinen, Homosexualität im Besonderen, Integration. Das Nest ist ein Schmelztiegel an zeitlosen Themen. Loisel und Tripp entwerfen hier einmal mehr ein Völkchen, liebenswert, allzu menschlich und sehr echt.

Ihre Art zu zeichnen, die leichte Karikatur in den Figuren, die manchmal zur näheren Bestimmung taugt, manchmal auch völlig täuscht, kann den Leser nur noch mehr für diese Charaktere einnehmen. Tripp überarbeitet Loisels Bilder in weichen Bleistiftkonturen und Grautönen in vielen Schattierungen, bevor Francois Lapierre eine samtweiche Kolorierung dahinter aufträgt. Der entstehende Eindruck ist eher märchenhaft als realistisch.

Eine wunderbare Fortsetzung mit gefestigten Charakteren: Deshalb ist die Kenntnis der bisherigen Bände ein absolutes Muss. Wer allerdings bis hierher am Ball geblieben ist, erlebt eine sehr menschliche Geschichte, die mit sehr viel Herz erzählt und gezeichnet worden ist. Eine Ausnahmeserie! 🙂

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