Im Wald da sind die Räuber. Im Frankreich des Jahres 1418 ist dieser Satz kein Gassenhauer, sondern furchtbare Wirklichkeit. Ritter Tanneguy Du Chatel will dem Dauphin sein Schicksal aufzeigen. Wie immer sich der junge Mann entscheiden mag, wehren muss er sich. Zu diesem Zweck, dieser Lektion, die erst gelernt werden will, hat Tanneguy den Dauphin in einen Wald gebracht, in dem die Ärmsten der Armen, die Wahnsinnigsten der Wahnsinnigen leben und nur noch einen Weg kennen, wie sie am Leben bleiben können: Über die Leichen anderer hinweg. Bald schon klirren die Waffen in der Nacht. Und der Dauphin wehrt sich!
Der französische Thronfolger ist auf der Flucht. Burgund greift nach der Macht. England will die französische Krone. Ein Land droht im Chaos unterzugehen. Die zweite Folge der Reihe Der tönerne Thron mit dem Titel Die Brücke von Montereau präsentiert eine Gruppe um den Dauphin, den Thronfolger, die sich angesichts einer militärischen Übermacht erst Hilfe und auch Rat suchen muss. Nicolas Jarry und France Richemond haben sich, historisch betrachtet, eine der aufregendsten Epochen Frankreichs ausgesucht, um eine spannende Geschichte zu erzählen.
Aber es ist auch eine dunkle Stunde in Frankreichs Vergangenheit. Der Herzog von Burgund hat ein Bündnis mit der Königin geschlossen. Der König selbst ist nur noch eine geistig umnachtete Marionette. Der Sohn, der als Thronfolger um sein Leben fürchten muss, ist aus Paris geflohen. Die Stadt ist in der Hand des Feindes. Die Schergen der Burgunder meucheln jeden, den sie für Anhänger des Thronfolgers halten. Willkürliche Gewalt ist an der Tagesordnung.
Während die Meuchelmörder ihren widerlichen Spaß haben, ordnen andere, höher gestellte Adelige ihre Dinge zu ihren Gunsten neu oder bemühen sich wenigstens redlich eine neue Ordnung herzustellen. Nicolas Jarry und France Richemond beschreiben den Einhundertjährigen Krieg in die Tiefe gehend, ausschweifend, aber nicht langatmig, im Sinne neuerer Umsetzungen historischer Themen. Historie wird hier menschlich begreifbar, indem deutlich wird, dass sich an Motivationen bis in die heutigen Tage nichts geändert hat. Die Vorgehensweisen jedoch, die geschilderten Ränkeschmieden fallen drastischer aus. An der Gewalt hat sich ebenfalls nichts geändert. Allerhöchstens waren die Hemmschwellen noch etwas niedriger angelegt.
Vor dem Hintergrund der Machtspielchen der Erwachsenen muss ein Thronfolger sich entscheiden, ob er überhaupt König werden will. Nachdem der erste Zorn über den Verlust von Paris verraucht ist, wächst die Erkenntnis, welche Last künftig auf diesen jungen Schultern ruhen soll. Der Dauphin ist kein Alexander der Große, dem die Lust an der Eroberung in die Wiege gelegt wurde, noch fühlt er sich berufen, einst die Krone zu tragen. Neben dem großen Ganzen beobachtet der Leser, wie sich der Dauphin dank eines klugen Ratgebers zu jemandem entwickelt, der Verantwortung übernehmen will. Denn letztlich geht es für ihn auch um das nackte Überleben. Selbst bei einem Thronverzicht werden seine Feinde unnachgiebig sein.
Grafisch wurde mit dem Zeichner Theo Caneschi genau der richtige Künstler für dieses Historienepos gefunden. In liebevoller Kleinarbeit ist ein sehr schöner Blick auf das intrigante Geschehen gelungen. Mode, Ländereien und Architektur jener Zeit wird mit großer Präzision gezeigt. Charaktere rund um den Dauphin und seinen Erzfeinde, den König von England und den Herzog von Burgund, wirken, dank ihrer sehr individuellen Gestaltung, regelrecht gecastet, wie man auf neudeutsch sagen würde.
Theo beherrscht den kantigen Heldenkopf, das weiche Frauengesicht oder den irren Wackelschädel (hier der dem Wahnsinn verfallene Charles VI. von Frankreich). Mittels perfekt gesetzter Striche arbeitet er Mimiken heraus, die so nicht oft in Comics zu sehen sind. An perspektivisch gezeichneten Ansichten von Gesichtern lässt sich erkennen, wie perfektTheo sein Handwerk beherrscht. Ist die Zeichenarbeit bereits sehr gelungen, arbeitet die Kolorierung von Lorenzo Pieri mit ihrer Leuchtkraft eine schöne Tiefe der Bilder heraus.
Eine hervorragende 2. Episode der Reihe um den tönernen Thron, der noch lange nicht erobert ist, von keiner Seite. Nicolas Jarry und France Richemond machen aus Geschichte ein packendes Abenteuer, Theo Caneschi und Lorenzo Pieri sorgen für beste Grafik. 🙂
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