Talinn, Evrane und Lorky haben ein Problem. Wie alle Heranwachsenden sind sie mit manchen (oder auch vielen) Ansichten nicht einverstanden. Besonders, wenn es ihre Zukunft betrifft. Talinn möchte Knappe werden, doch daheim hält sein Vater ihn nicht für fähig, dieses auch zu leisten. Besser wäre es, er hülfe auf dem Hof, wie es sich für einen Bauernsohn gehört. Evrane mag sich weder mit ihrer Stellung als Mädchen noch als Bauerntochter anfreunden. Sie übt den Schwertkampf. Sie will dazu gehören, obwohl ihre Mutter sie in ihre Schranken weisen will. Und Lorky? Der kleine Lorky will einfach da sein, wo etwas los ist. Eine Weissagung erklärt ihm, dass er davon bald mehr haben wird, als ihm möglicherweise lieb ist.
Jean-Charles Gaudin, Fantasy-Freunden von Marlysa her bekannt, startet mit Angor eine Reihe, die ein sehr jugendliches Abenteuer erzählt und ein wenig an Klassiker wie Taran von Lloyd Alexander erinnert. Nur hat der Leser hier die Wahl, sich seinen persönlich sympathischsten Helden herauszusuchen. Charakterlich sind die Hauptfiguren verschieden genug. Talinn, in sich gekehrt, ehrgeizig und hilfsbereit. Evrane, behutsam, bedacht, kämpferisch, auch ein wenig mütterlich zu den anderen. Lorky, die Jungenrolle in der Geschichte, der Naseweis, manchmal zu schnell mit der falschen Aktion bei der Sache. Und alle haben das Herz am rechten Fleck.
Dimitri Armand kann nicht verleugnen einen leichten Hang zu Disney-Filmen zu besitzen, insbesondere solche, die mit menschlichen Figuren arbeiten. Wer Filme wie Atlantis oder Der Schatzplanet gesehen hat, wird die Ähnlichkeit schnell feststellen. Schlanke Staturen, schmale, relativ spitz zulaufende Gesichter mit vergleichsweise großen, ausdrucksstarken Augen. Durch feinere Ausarbeitung und Kolorierung, die für Volumen sorgt, entsteht eine recht realistische Zeichnung. Mit all diesen Fertigkeiten, auch den Fähigkeiten zur Abstraktion, wie die Brakyas, eine Monstergattung, beweisen, empfiehlt sich Armand auch, in die Fußstapfen des verstorbenen Carlos Meglia treten zu können. (Canari wurde wegen des Todes des Zeichners nicht mehr vollendet.)
Bis auf die Brakyas verzichtet die Welt von Angor (weitestgehend) zunächst auf andersartige Gestalten. Vieles wirkt mittelalterlich, aber auch wie ein sehr sauberes Mittelalter. Dimitri Armand zeichnet sauber, penibel, jede Form von Perspektive beherrschend. Einige Szenen sind besonders spannend gelungen, allein durch die Wahl der Kameraführung. Die Ausstattung macht einen tollen Eindruck. Von Angor möchte man mehr sehen und es sind auch solche Einblicke wie in einen normalen Haushalt, die der Welt eine besondere Dichte geben.
Da Effekte relativ selten sind, ziehen sie umso mehr Aufmerksamkeit auf sich. Wie bereits auf dem Titelbild ersichtlich ist, spielt ein leuchtender Gegenstand eine besondere Rolle. Daraus ergeben sich, gerade zum Schluss, ein paar interessante Einblicke. Ein neuer Freund ist hier ein Stichwort, dessen Gestaltung sehr gelungen ist.
Ein gefälliger und sehr schön gestalteter Auftakt. Die Rätsel sind sparsam gesät, so behält die weitere Entwicklung der Handlung größtmöglichen Spielraum. Alles ist möglich. Für Fantasy-Freunde, die mehr an Abenteuern als an Schlachten und Kämpfen interessiert sind, könnte die Geschichte einen Blick (oder mehr) wert sein. 🙂
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