Serge soll gehen. Aber Serge geht nicht. Zwar hatten die meisten im Dorf ihm eine ganz andere Bestimmung zugedacht und bestimmt keine Rolle als Ersatzpapa im Sinn, aber eines steht fest: Serge ist aus dem Dorf nicht mehr wegzudenken. In der Zwischenzeit haben sich ungewöhnliche Freundschaften geschlossen. Mann hält zusammen. Serge hätte das nicht erwartet. In dieser kleinen Gemeinde werden plötzlich Grenzen übersprungen, sogar von Seiten her, von denen es nicht zu erwarten war. Das ist für die Menschen wünschenswert, allerdings sind es auch Erkenntnisse, die für drei kleine Beobachter immer seltsam bleiben werden. Eine Ente, ein Hund und eine Katze haben längst gegen alle Wahrscheinlichkeit nicht nur Frieden, sondern auch Freundschaft geschlossen. Wen kümmern da die Mutmaßungen darüber, wer wen warum oder ob überhaupt liebt?
Ein Mikrokosmos menschlicher Verhaltensweisen, angesiedelt zwischen Neugier, Gutmütigkeit, Neid, Angst und Liebe. Gut durchgerührt ergibt das eine herzliche Menschlichkeit, eine Normalität, die in dieser Form in Großstädten schwer zu finden ist. Regis Loisel und Jean-Louis Tripp haben mit ihrer kanadischen Dorfgeschichte aus den 20er Jahren eine faszinierende Handlung kreiert. Die hier geschilderte Menschlichkeit, die kleinen Szenen und Episoden rangieren ohne Übertreibung auf einer Stufe mit Veröffentlichungen wie Don Camillo und Peppone. Soll heißen: Wer bislang dem Comic den Wert las literarisches Werk verweigerte, wird mit dieser Reihe eines Besseren belehrt.
In einer Zeit, in der die Uhren langsamer tickten, die Welt noch viel größer war, konzentrierten sich die Menschen viel stärker auf ihr näheres Umfeld als heute. Heute mag die Welt ein Dorf sein, mancher mag den Trost im Chatten finden, aber das hält keinen Vergleich zu einer Szene stand, die Loisel und Tripp hier mit ungeheurem Fingerspitzengefühl geschaffen haben. Gut, warum jemand mitten in einem Dorf an einem Boot baut, mag sich mancher Leser schon gefragt haben. Wichtiger ist allerdings, wie dieser Bootsbau zu einem Treffpunkt wird, wie er Menschen verbindet. Zuerst wortlos im gemeinsamen Zimmern, später im Gespräch. So treffen sich ausgerechnet der Mann, der an der Seite von Marie mit Argusaugen beobachtet wird und der Pfarrer auf dem Boot. Beide sind aufgewühlt. Der eine, weil er nicht kann, wie er soll. Der andere, weil er weiß, warum ersterer nicht kann. Und niemand, so scheint es, darf auch nur ein Wort darüber verlieren. Bis …
Es ist die Zeit der Bekenntnisse. Der alte Noel und der ebenfalls alte Isaac, der eine einäugig, der andere blind sehen so viel besser als der Rest des Dorfes. Was den einen eine Schande ist, kümmert sie nicht. Sie sehen den Kern eines Menschen mit einer Selbstverständlichkeit, die einem bei der Lektüre anrührend leicht erscheint. Die mit kleinsten Dialogen erzählten, manchmal auch wortlos geschilderten Szenen, besitzen eine enorme Lebendigkeit, die in jeder Form von medialer Unterhaltung selten ist. Sei es im Comic, Roman, Film oder Hörspiel.
Das Nest lässt sich Zeit. Viel Zeit. Das ist der Grund. Die leise und langsame Erzählweise ist entgegen aller Erwartung nicht langatmig. Die Geschichte lebt nicht nur durch ihre handelnden Figuren, sondern auch durch die Umgebung, die Fremdheit des Jahrzehnts und durch die Abgeschiedenheit von allem. Nicht nur die Geschichte dauert. In diesen geschilderten Leben dauert alles. Hier muss nichts extra ausgebremst werden, mit dieser neumodischen Entschleunigung des Lebens. Hier geht es nur so schnell, wie es geht. Und das ist im Gegensatz zur heutigen Zeit und auch zu den Erwartungen, die an die zivilisierte Welt gestellt werden, Schneckentempo.
Obwohl es Probleme in diesem Dorf gibt, gibt es auch Lösungen. Die Menschen mögen mitunter verschroben sein, aber sie sind nicht dumm. Regis Loisel und Jean-Louis Tripp entwerfen eine verschworene Gemeinschaft, die auch grafisch wunderbar funktioniert. Großaufnahmen, Gesichtsausdrücke sind hier immens wichtig, da sie einen guten Teil der Handlung miterzählen. Durch seine Abstufungen in der Mimik entsteht ein starkes filmisches Erlebnis. Die Zeichnungen insgesamt sind sehr zerbrechlich wirkend ausgeführt. Regis Loisel liefert die Grundlage, bereits ausgezeichnet, die von Jean-Louis Tripp mit hoher Strichdichte in Licht und Schatten getaucht wird. Mittels Computerkolorierung (der man diesen Aspekt aber nicht ansieht) wird die übrige Arbeit durch Francois Lapierre mit sanften unaufdringlichen Farben erledigt.
Ein toller vierter Teil, der aber nicht ohne seine Vorgänger bestehen kann. Als Reihe ist Das Nest eine absolute Ausnahmeerscheinung im Bereich Comic, gleichzeitig aber auch eine kleine literarische Entdeckung, in der zwischen den Zeilen noch viel mehr zu finden ist, als vordergründig ersichtlich. Sehr gut. 🙂
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