Zwei Männer unterhalten sich über das ganz große Spiel. 13 Familien agieren hinter den Kulissen, beeinflussen, herrschen unbemerkt. Machtspiele, Streitigkeiten auf Leben und Tod gehören dazu. Doch darin unterscheiden sie sich nicht von den allgegenwärtigen Dealern in den Straßen von New York und im Central Park. Bei den beiden Männern steht am Ende immer nur eine Konsequenz, die es zu beachten gilt. In den Straßen von New York herrscht das gleiche Gesetz. Wenig später sehen die Straßen von New York eine weitere Schießerei, müssen sich unbescholtene Passanten flink in Sicherheit bringen.
100 Bullets, also 100 Patronen sind das Kernthema, der Aufhänger der vorliegenden Serie. Ein geheimnisvoller Mann taucht im Leben eines Unbekannten auf. Der Unbekannte hat noch eine Rechnung zu begleichen. Der geheimnisvolle Fremde bietet ihm die Möglichkeit dazu, diese Angelegenheit für immer zu bereinigen. In einem Aktenkoffer findet sich eine Pistole und 100 Schuss Munition. Beides ist nicht zurückzuverfolgen. Wenn sich der Unbekannte entscheidet, die Gelegenheit zu nutzen, wird es nie eine Strafverfolgung geben, geschweige denn ein Verfahren.
Fragt sich nur, was ist, wenn gleich mehrere Menschen für das eigene Versagen verantwortlich gemacht werden? Jack ist so ein Mensch, von Drogen abhängig, ein vollkommener und auch gemeingefährlicher Versager, der eigentlich nur auf seine Gelegenheit wartet. Mehr noch: Er hat ein ganz besonderes Ziel auserkoren. Brian Azarello lässt den roten Faden der Handlung außen vor und widmet sich den Randfiguren. Allein auf diesem Feld kann er eigentlich immer neue Geschichten entwerfen. Einzig die Fantasie setzt Grenzen. Die Gesamtdramaturgie ist nicht so wichtig, da sich beiderseitig der großkopferten Familien genügend Platz für Erzählungen findet, ohne sich um die Zusammenhänge zu sorgen. Und, falls nötig, können diese Nebenhandlungen sogar später noch eingeflochten werden.
Es besteht natürlich die Gefahr, dass sich der Autor in seinen Details verliert. Ebenso besteht die Gefahr, dass der Leser versucht einem Faden zu folgen, der keiner ist. Es ist eine Frage der Gewöhnung. Spätestens nach den ersten zwei Episoden ist ersichtlich, welche Figuren wichtig sind (also auch überleben, um weiter zu kommen) und wer nur Kanonenfutter ist. Während die Großen weiter spielen, grämen sich die Kleinen und werden auf schnellstem Wege zu Bauern in einem noch viel größeren (und gemeineren) Spiel.
Mit Eduardo Risso zeichnet ein Künstler, der einerseits Minimalist ist, andererseits aber stets das richtige Bild trifft, indem den wichtigen Teil einer Szene intuitiv zu erfassen scheint. Hat er sich schon reinen Schwarzweißoptiken hervorgetan (Vampire Boy) und dort einen sehr gotischen, aber auch blank polierten Horror einfangen können, hat man sich mit 100 Bullets für eine kolorierte Handlung entschieden.
Der einzige Unterschied für Eduardo Risso scheint in der grafischen Umsetzung darin zu liegen, dass er mehr Platz für Farbe lässt. Er arbeitet weiter gerne und oft mit Schwarzflächen, geschickt eingesetzten Schatten, die Tiefe simulieren und zugleich zu einem wichtigen dramaturgischen Gestaltungselement werden. Indem er durch sie Bereiche ausblendet, setzt er den Fokus auf den Augenausdruck einer Person, auf ein Lächeln, eine Haltung. Risso ist ein Künstler, dem es auf perfekte Art einerseits gelingt ein Film Noir Gefühl auf Comic-Seiten einzufangen, es aber andererseits in einer Art Miami Vice Optik zu präsentieren.
Als kleines Schmankerl geben sich seitenweise einige Zeichner ein Gaststelldichein. Der direkte Vergleich zu Risso ist interessant zu sehen. Der Leser kann sich so unter anderem auf die Interpretationen von Frank Miller, Jim Lee und Jordi Bernet (Torpedo) freuen.
Ein knallharter Thriller ohne Kompromisse: In 100 Bullets geht der Tod ein und aus, schwebt er wie eine unsichtbare Sense über den Akteuren, seien sie nun König, Dame oder Bauer. Eine sehr dichte Erzählung von Brian Azarello und stilistisch klaren Bildern von Eduardo Risso. 🙂
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