Canardo lässt es sich gut ergehen. Leben und leben lassen, so könnte sein Motto lauten. Deshalb kann er auch nicht nein sagen, als Galinka, eine Vertreterin des horizontalen Gewerbes ihn bittet, sie nach Hause zu fahren. Natürlich versucht sie beiläufig Canardo herumzubekommen, doch der Detektiv kann sich einen derart teuren Abendabschluss nicht leisten. Die Fahrt geht heimwärts in Canardos altem Cadillac Eldorado Biarritz. Leider wissen nicht alle Verkehrsteilnehmer Canardos klassisches Automobil zu würdigen. Ein brutaler Zusammenstoß bringt den amerikanischen Straßenkreuzer samt Insassen von der Straße ab, geradewegs hinein ins Hafenbecken.
Der Verkehrsrowdy, der sie mit seinem Porsche regelrecht von der Straße geschossen hat, besitzt immerhin ein schlechtes Gewissen. Ein Trost ist das nicht. Nicht für Canardo, dessen Fuß eine längere Genesungsphase benötigt. Nicht für Galinka, die nun eine Frau ohne Gesicht ist und eine noch viel längere Behandlung über sich ergehen lassen muss. Gott sei Dank sind die Möglichkeiten der Gesichtschirurgie weit gediehen. Fragt sich nur, wie hat Galinka vor dem Unfall eigentlich ausgesehen? Aber dafür gibt es schließlich Fotos …
Inspektor Canardo, der Mann, dem keine Gefühlsregung zu schwer ist, der sich aber nicht besonders bemüht, diese darzustellen, gerät nach diversen Ausflügen in das bürgerliche Leben, nach Auseinandersetzungen mit Terroristen und Geiselnehmern, sogar nach Zeitreisen nun in Adelskreise. Gleichwohl gehen ihm auch diese Kreise mit seiner gewohnt schnoddrigen Art an seinen Hinterbacken vorbei. Die Herzogin des Kleinherzogtums Belgamburg sieht die Angelegenheit weitaus weniger lässig. Sokal beschreibt eine Adelssippe mit einem Problem. Dieses Problem heißt: Nachwuchs.
Den gibt es zwar, doch der ist alles andere als für diesen Posten geboren, ein Problem, das Sokal nicht aus der Luft gegriffen hat, wenn man den einschlägigen Klatschmeldungen glauben darf. Allerdings geht Sokal im Stile einer Kriminalgeschichte noch einen Schritt weiter. Frau Herzogin hat nur das Ansehen des Herzogtums im Blick. Die Eskapaden ihres Sohnes Nono jedoch sind ein beständiges Ärgernis. Wenn eine Mutter den Wunsch äußert, ihrem Sohn den Testikel zu entfernen (höflich ausgedrückt), dann ist etwas faul im Kleinherzogtum Belgamburg.
Sokal entwirft ein kleines, aber feines Ränkespiel wie auch Verwirrspiel um die Vorlieben des Thronfolgers von Belgamburg. Mit einer gewissen Süffisanz, den Canardo mit seinem Spötteln transportiert, schildert Autor und Zeichner Sokal das ziemlich unspektakuläre Leben bei Hofe, zeigt dem Leser ein Paar (wirklich nur zwei) auf der Lauer liegende Paparazzi und die Gespräche hinter den verschlossenen der (sehr kleinen) Macht. Sokal zeigt jedoch auch, dass auch eine kleine Macht eine Macht ist, die mit ihren Werkzeugen zu hantieren weiß. Ganz nebenbei bringt er den altbekannten (und einigermaßen unverständlichen) Streit der belgischen Ureinwohner zur Sprache, indem er die Wallonen einen sehr großen Traum eines noch größeren wallonischen unabhängigen Staates träumen lässt.
Die Frau ohne Gesicht wird zum Bindeglied der einzelnen Bestandteile der Handlung. Keine Brücke, eher eine Kette, an der unterschiedliche Fraktionen aus unterschiedlichen Gründen zerren. Eine der besten Szenen findet sich in einer Begegnung zwischen der Herzogin und Galinkas ehemaligem Zuhälter. Der Mann vom Kiez wundert sich sehr, dass eine Herzogin in Sachen Unterweltsprache ebenso viel zu bieten hat wie er. Überhaupt hat Sokal mit der Herzogin einen Drachen erschaffen, der irgendwie an die eiserne Lady erinnert. In einer Verfilmung hätte man hier eine Anwärterin auf den Oscar für die beste weibliche Nebenrolle.
Durchgehend im bekannten Sokal-Stil gezeichnet, entführt die Frau ohne Gesicht den Leser in die Abgründe der Adelskreise und der niederen Politik. Gewohnt bissig, mit pechschwarzem Humor ausgestattet, bietet auch die 18. Folge von Inspektor Canardo beste Krimiunterhaltung. 🙂
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