Gleich zwei Wachen wollen den Eindringling auf seinem Fluggerät aufhalten. Fast könnte es ihnen gelingen, doch sie nehmen den Gegner zu sehr auf die leichte Schulter. Dieser lässt einen von ihnen gehen und eine Nachricht übermitteln. Nicht viel mehr will er, als seine Frau befreien, die in dem gewaltigen Turmkonstrukt Thorinth gefangen gehalten wird. Und, da er gerade schon einmal dabei ist: Sollte die Befreiung und die anschließende Flucht gelingen, wird der Fremde zurückkehren und jene bestrafen, die seine Frau überhaupt erst dorthin gebracht haben.
Nach der Lektüre des ersten Bandes von Thorinth weiß ich vor allem eines: Ich will einen Schuffel! Mit dieser Kreatur (sicher, es sind mehrere, aber ich meine hier den persönlichen Begleiter der Hauptfigur) ist Nicolas Fructus eine Figur gelungen, die einen neuen Hype auslösen könnte, würde sie wie Nemo und Konsorten tatsächlich existieren.
Es existiert eine leichte optische Verwandtschaft der Schnuffels zu einem viel größeren und seit langem ausgestorbenen Triceratops. Der Körper ähnelt dem eines Elefanten, die Beine sind im Verhältnis stummeliger, der Schwanz voluminöser. Ein Schnuffel ist haarlos, dafür hat er wie der Triceratops einen Nackenschild und Hörner, allerdings besitzt er nicht dessen papageienartigen Schnabel, sondern ein Schnütchen. Und seine Größe dürfte der eines Mopps-Hundes entsprechen, sogar mit dessen Moppeligkeit. Als wäre das noch nicht genug, hat der Schnuffel außerdem noch große Kulleraugen: Perfekt gemacht.
Mit der Welt, die Nicolas Fructus hier erschaffen hat, verhält es sich ähnlich. Allerdings ist sie ungleich komplizierter und sehr viel weniger zugänglich (sogar im wahrsten Sinne des Wortes). Und hier dürften sich die Geister scheiden. Wer die Eingangsbeschreibung im Album liest (und sieht, selbstverständlich), dürfte sich ein wenig wie in einem Adventure fühlen. Die Ausgangssituation wie auch sämtliche Merkmale dieser Welt wehren sich gegen einen Vergleich. Thorinth, das Labyrinth innerhalb eines riesigen Turmes, will etwas ganz Neues sein, ein phantastischer Käfig voller Narren. Vielleicht auch ein Kuckucksnest, in das jemand hineinfliegt. Hier sorgt nur keine verhasste Krankenschwester für Ordnung, vielmehr hat ein brutaler Golem für Missetäter seine ganz eigene Strafaktion parat.
Thorinth sollte ein Experiment sein. Es sollte zur wissenschaftlichen Erforschung des menschlichen Geistes dienen. Nun ist es hermetisch abgeschlossen. Ein Eindringen in diese Konstruktion, die schon von außen ein merkwürdiges, aber auch ehrfurchtgebietendes Bild abgibt, ist nur mit Gewalt möglich. Nicolas Fructus nimmt den Leser an der Seite eines Mannes mit, der seine Frau aus Thorinth befreien möchte. Grafisch lässt sich das Ergebnis mit Techniken vergleichen, die sich auch bei einem Simon Bisley (Judge Dredd), einem Richard Corben (Den) oder den Hildebrandt-Brüdern (Star Wars, HdR) finden lassen.
Ein milchiger, deckender Farbauftrag wird mit einem Sinn für Details zu feinen und hochwertigen Bildern. Fructus bildet eine Welt ab, die den Wahnsinn eines Incal teilt. Da Wahnsinn auch Methode braucht, ist die Ausstattung hier Trumpf. Der anfänglich beschriebene Schnuffel ist nur die Spitze des sprichwörtlichen Eisbergs. Gewänder, ausgefallene Architektur, die Gestaltung des Narrenwächters (Golems), die Reise durch die verschlungenen Gewölbe des Turmes haben etwas von einer Welt, in der Alice auch ihr Wunderland gefunden haben könnte. Jederzeit könnte eine Königin um die Ecke kommen und schreien: Runter mit dem Kopf!
Wer sich auf Thorinth einlässt, muss Geduld haben. Es ist keine schwere Kost, aber auch nicht leicht zugänglich. Die Hauptfigur ist zwar leidenschaftlich, doch auch kühl, beinahe zu cool. Es ist eine Geschichte, deren Einstieg sperrig erscheinen mag. Zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich noch nicht sagen, ob sich das Bild durch die Fortsetzungen klären wird. Hier mag ein Vergleich zum Incal oder auch zu Die Sternenwanderer wirken, denn diese beiden Comic-Epen benötigen ebenfalls ihre Zeit, um geschmacklich zu wirken und sich zu entfalten.
Ungewöhnlich, fast schon ein Experiment, auf ungewisse Weise anziehend und neugierig machend. Thorinth gibt sich als Rätsel aus, ist bewusst rätselhaft. Geduldige Entdecker, die eine langsame Annäherungsweise mögen, sollten einen Blick in dieses grafisch aufwendige Projekt werfen. 🙂
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