Der König wartet schon. Ein gigantischer Vogel trägt Roland zur Audienz und wird auf höchst ungewöhnliche Art begrüßt. Damit hat Roland nicht gerechnet. Der unheimliche Herrscher mit den Spinnenarmen und der schwarzen Haut schmeichelt Roland, schlägt gar ein Bündnis vor. Vieles von dem, was für Roland bisher selbstverständlich war und was er zu wissen glaubte, ist plötzlich in Frage gestellt. Aber nur kurz, denn die Folterqualen, die Roland wenig später aushalten muss, zeugen von der wahren Natur des scharlachroten Königs.
Das Grafik-Team, Jae Lee und Richard Isanove, schafft es etwas ganz Außergewöhnliches: Die Mischung aus klassischer Kunst und moderner Technik. Wer sich manches Bild betrachtet, kann bei Vergleichen zu dem Schluss kommen, dass Lee und Isanove die alte Schule kennen. Sollte das nicht der Fall sein, könnten sie sich ohne Frage in diese alte Schule einreihen, obwohl sie sich modernster Zeichnungsumsetzung und Kolorierung bedienen.
Wer sich alte Bilder betrachtet, großformatige Wandgemälde sogenannter alter Meister, dem wird zweifellos das Spiel mit der Kleidung auffallen. Ebenso finden sich großartig angelegte Faltenwürfe in mamornen Statuen, wie sie zur Zeit von Michelangelo entstanden. Lee und Isanove spielen weltmeisterlich mit Falten. Bei ihnen werden sie beinahe zur Landschaft, besitzen geradezu organische Strukturen und gewinnen außerordentlich an Volumen. Die Falten, Hubbel, Erhebungen werden auf Körper, menschliche, tierische und pflanzliche fortgesetzt, so dass sich die Bilder dem Betrachter ein wenig entgegenwölben und eine hohe Plastizität ausstrahlen. Besonders in den großformatigen Bildern, die gleich eine ganze Seite einnehmen, ist dieser Effekt besonders deutlich.
Aus einem Raben wird Marten Broadcloak, der Mann, den der junge Revolvermann Roland über die Maßen hasst. Ein Rabe, eine teuflische Personifizierung (immer gerne als Bösewichtvogel genommen wie in Die Vögel oder Omen II), könnte dank der vergrößerten Ansicht des Auges auch eine schwarze Explosion genannt werden. Selbst in einzelnen Bildern schwankt der Eindruck von Bewegung und Statik. Der Blick rast auf das Auge zu, springt hinüber zur Gesamtansicht des Raben. Nur eine Seite weiter enthüllt sich die wahre Natur des Tiers: Marten Broadcloak. Der Magier wird mit seinem wehenden Umhang seinem Namen völlig gerecht. Unter einem verkommen aussehenden Kleidungsstück, das sich wie eine Felswand auftürmt, verrät ein bloßes Bein die schwammige Nacktheit des Mannes darunter. Der rötliche Dunst im Vordergrund, der nicht minder rote Hintergrund, durchzuckt von einem Blitz ist Atmosphäre pur und steht exemplarisch für ein durchgehend dichtes Erscheinungsbild, das einem Bühnenbildner eingefallen sein könnte.
Wie der Titel es schon andeutet (Der lange Heimweg), handelt es sich um die Geschichte einer Reise. Und die Geschichte einer Flucht. Ähnlich wie in Der Talisman (einem Roman, an dem Stephen King auch beteiligt war) bewegt sich der Leser hier durch zwei Welten und eine ist gruseliger als die andere. Normalerweise strahlt Rolands Welt schon genug Fremdheit aus. Durch die Fantasien, die Roland in seinem Fieberwahn erleben muss, verdoppelt sich nicht nur der optische Hindernislauf. Die Dramatik, die sich alleine in einzelnen Szenen findet (die beschriebene Szene ist vergleichsweise harmlos und wird grafisch noch durch manch andere Szene überflügelt), lässt die Atmung ebenso schneller werden wie ein rasanter Action-Film oder Mystery-Thriller.
Ob es die Schwierigkeiten sind, die sich bei der Überquerung über eine Hängebrücke mit einem Pferd im Schlepptau ergeben. Ob es der Kampf mit einem Marten Broadcloak ist oder die Begegnung mit dem scharlachroten König selbst: Die Szenen atmen Theatralik und Horror wie auch eine derbe, dunkle und auch schwermütig zu nennende Fantasy, die sicherlich nicht jedermanns Sache ist, aber mit Sicherheit eine gewisse Einmaligkeit mitbringt.
Für Fans des Dunklen Turms wird die Lektüre der Romanreihe mit diesem zweiten Comic um einige Antworten bereichert, doch bestimmt nicht um alle. Der maßgebliche Stephen King, die beratende Robin Furth und der adaptierende Peter David bewegen sich hier in einer surrealistischen Welt, die Seite an Seite mit einem Salvador Dali entstanden sein könnte. Der Anhang, der eine fast ebenso große Seitenzahl wie die eigentliche Erzählung beansprucht, liefert nicht nur weitere Hintergrundinformationen zur Welt des Dunklen Turms, sondern auch zum Projekt selbst.
Eine tolle Fortsetzung. Zum Verständnis ist die Lektüre des ersten Teils Pflicht, aber es ist damit zu rechnen, dass insbesondere Fans des Dunklen Turms hier zugreifen, deshalb ist höchstwahrscheinlich Vorwissen vorhanden. Ein sehr umfangreiches wie auch inhaltsreiches Projekt dunkler Fantasy mit einer grafisch herausragenden Umsetzung. Für Fans absolut empfehlenswert, alle anderen sollten sich erst einmal Vorschauseiten ansehen und über dieses einzigartige Werk Kings weitergehend informieren. 🙂
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