Alphonse hat echte Probleme, weil sein Leben ein ziemlicher Trümmerhaufen ist. Er nimmt sich die Freiheit, keine Freiheit zu haben. Seine Frau ist ein Hausdrachen und seine einzige Freude findet er im Alkohol. An diesem Morgen, der ebenso grauenhaft für Alphonse ist wie alle anderen auch, macht er sich wieder auf seinen gewohnten Weg, hinaus zum Gut des Ritters und seiner Familie. Alphonse beneidet sie alle. Vor allem ist er an der Tochter des Ritters interessiert. Bislang dachte Alphonse immer, das Leben eines Ritters bedeute das höchste Glück (jedenfalls im Vergleich zu seinem Leben). Das ändert sich nun schlagartig.
Als Alphonse das Anwesen des Ritters erreicht, stellt er nach einem kurzen Blick fest, dass sich drei Halsabschneider im Haus befinden und den Ritter und seine Familie bedrohen. Leider (das kann angesichts der Wendungen gar nicht oft genug gesagt werden) nimmt es weder für den Ritter noch für Alphonse eine gute Wendung, denn kurz darauf befindet er sich auf der Flucht und nichts wird für ihn jemals wieder so sein, wie es war. Aber vielleicht ist das auch ganz gut so.
Simon Andriveau, Erzähler und Zeichner in Personalunion, beginnt mit einem klassischen Auftakt im wahrsten Sinne des Wortes. Klassisch ist die Epoche, beginnend im Jahre 1666, als der Sonnenkönig Ludwig XIV. an der Macht war. Man könnte auch sagen: An der Macht spielte. Alphonse befindet sich in einem Lebensabschnitt, in dem er sein Leben auswändig kennt. Da gibt es kaum etwas, das die Monotonie durchbricht. Und plötzlich, bevor der Leser sich überhaupt an diese Monotonie gewöhnen kann, er sie nur aus der Einstellung von Alphonse heraus glauben muss, passiert der große Knall. Von Jetzt auf Gleich beweist Alphonse, dass nicht nur ein gutes Herz in ihm steckt, sondern auch ein mutiger Kerl.
Sobald das Adrenalin allerdings nachlässt, wird ihm die Gefährlichkeit seiner Situation drastisch vor Augen geführt. Er kommt bei der Flucht beinahe ums Leben und steht an einem vollkommenen Neubeginn. Simon Andriveau hat einen Helden, eine Hauptfigur ins Leben gerufen, die keinerlei Grund hat, dorthin zurückzuwollen, wo sie war. Fast ist er ein einzelner Stadtmusikant: Etwas Besseres als den Tod wird Alphonse überall finden. Und so sind ausgerechnet jene, die von der sogenannten Gesellschaft verachtet werden und ausgestoßen sind, zunächst eine neue Familie.
Abseits des offensichtlichen Abenteuers, mehr am Rande, aber nicht unwichtig, da hier die Ursachen für das neue Leben von Alphonse zu finden sind, wird eine Intrige gesponnen. Diese Art der Geheimnisse wird jenen vertraut sein, die sich mit den Geschichten von Alexandre Dumas (dem Älteren) einen schönen Leseabend gemacht haben. So zitiert Simon Andriveau hier ein wenig den Mann mit der eisernen Maske. Ein von Geheimnissen umgebener Mann darf sein Gesicht nicht zeigen, wird versteckt und bewacht, aber nicht grundsätzlich beschützt. Wie so oft in solchen Fällen (Geschichten) reichen die Geheimnisse bis in die höchsten Höhen der Monarchie und können eben diese bei einer Veröffentlichung stürzen.
Das ist auf jeder Ebene äußerst spannend, auch, da Andriveau einen sehr lebendigen Zeichenstil pflegt, seinen Protagonisten jeweils ein charakterstarkes Gesicht mit auf den Weg gibt. Charakterstark bedeutet aber auch, dass er Charaktere auf den ersten Blick erkennbar macht. Der Anführer der Halsabschneider, die durch ihr dilettantisches Vorgehen den Stein erst ins Rollen bringen, ist durch eine riesige Narbe quer durch das Gesicht gezeichnet. Paulo, einer der Roma, ist ein Baum von einem Mann, ein dunkelhaariger Gerard Depardieu. Nuzi ist gleich als Querulant erkennbar. Nicht nur seine Aussagen lassen darauf hindeuten, dass von ihm noch einmal Ärger ausgehen wird.
Andriveau zeichnet fett und fein. Er beherrscht den klobigen, bedeutsamen Strich in der Nahaufnahme ebenso wie die feine (bis sehr feine) Ausarbeitung in der Totalen. Der Künstler ist kein Mann der glatten Form. Da gleitet die Tusche schon ruppig über das Papier. Er ist kein Disneyist wie es ein Carlos Meglia war, eher arbeitet er im Stile eines Serge Pelle (Orbital) oder noch mehr wie eines Vincent (Albatros), ohne aber seine Figuren satirisch zu überspitzen.
Die Bilder leben von ihrer wunderbaren Ausarbeitung. Wer die Grafiken betrachtet, erkennt schnell, dass Andriveau nichts dem Zufall überlässt und auch keine Arbeit scheut. Durch das Beiwerk, vordergründige Beigaben und hintergründige Kulissen entstehen sehr tiefe Bilder. Besonders gelungen (also meistens, da hier viele Szenen spielen) sind die Begebenheiten in den Wälder und im Lager der Roma. Andriveau setzt auf matte Farben, um die wirklich leuchtenden Bestandteile wie ein kräftiges Grün der Bäume oder die knallige Mode noch besser herauszustellen.
Aufwändig und detailgetreu gestaltet, einfühlsam und mit Sinn für genau gesetzte Spannungspunkte erzählt entsteht durch Künstler und Autor Simon Andriveau ein sehr lebendiges Abenteuer in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Comic-Fans, denen es nach klassischen Erzählungen mit gut gestalteten Charakteren und einer ordentlichen Portion Action verlangt, werden hier sicher fündig. 🙂
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