Es stinkt. Aber die beiden jungen Abenteurer sind sich einig: Drachen riechen anders. Niccolo kann zwar nicht aus Erfahrung sprechen … Moment, das Ding dort im Käfig kann unmöglich ein Drache sein. Ein Drache sieht doch nicht so … komisch aus. Und geht auch nicht so menschlich auf zwei Beinen. Und hat niemals eine derartige Knubbelnase. Das kann einfach nicht sein. Tatsächlich ist es auch kein Drache. Für Nugua, das Mädchen, besteht da keinerlei Zweifel. Sie kennt Drachen und hat bei ihnen gelebt. Und der Drache? Er stellt sich mit dem Namen Feiqing vor. Er ist kein Drache, vermag es aber auch nicht sich von seinem Kostüm zu trennen. Ein Fluch bindet ihn daran. Fortan geht die Reise zu dritt weiter.
Über den Wolken ist die Freiheit grenzenlos, doch am Boden lauert die Gefahr. Niccolo, auf der Suche nach dem Äther, dem Atem der Drachen gerät in Situationen, die er nie (und auch der Leser nicht) für möglich gehalten hätte. Der überwältigenden Vorstellungskraft und der Begeisterung von Kai Meyer für alles Phantastische ist es zu verdanken, dass die Geschichte um das Wolkenvolk den Leser in andere Sphären entführen konnte.
Angesichts der Vielfalt der Orte, Völker, Figuren und Charaktere kann man im positiven Sinn von einer phantastischen Achterbahnfahrt sprechen. Ein anderer Vergleich wären die berühmten Zahnrädchen. Hier greifen sie von einem ins andere, produzieren immer neue Handlungslinien und Verzweigungen, bis es sich zeigt, dass Kai Meyer ein wundersam schönes Maschenwerk gewoben hat, in dem alles bis ins Kleinste perfekt geplant ist.
Meyer berichtet im Anhang von seinen ersten Erfahrungen mit der Welt der chinesischen Schwertkämpfer, der Magie des asiatischen Martial Art Kinos, das mit wundervoll neuen und ganz anderen Themen aufwarten konnte als das europäische Kino. Natürlich gab es auch Kung Fu, die Serie wie auch den Comic. Meyer spielt hier auf die Comic-Reihe an, nicht wirklich Wuxia, jene chinesische Literatur um wandernde Schwertkämpfer, dennoch genügte es, um Meyers Fantasie anzufeuern. Gott sei Dank, kann man da als Leser nur sagen.
Die Reise beginnt bei dem Wolkenvolk. Allein die Ausgangssituation ist außergewöhnlich und andere Autoren würden diese Welt ausbauen und einen kompletten Roman daraus schaffen. Meyer, oder vielmehr hier Yann Krehl mit seiner Textadaption nimmt den Leser mit auf eine lange Reise. Kaum am Boden angekommen wartet eine Schwertkämpferin und Diebin auf den Helden der Geschichte. Es folgen eine Herumtreiberin und ein Drache, der eigentlich keiner ist und wenig später machen sie sogar die Bekanntschaft mit …
Das wird nicht verraten, aber spätestens an dieser Stelle, erhält die Handlung ein noch größeres Volumen. Man beginnt jetzt erst das Ausmaß dieser Welt zu begreifen. Häufig weiß man als Leser um die Welt, in der sich eine Geschichte bewegt. Sie ist außen herum, die Handlung selbst bewegt sich innerhalb eines Mikrokosmoses. Hier allerdings können jederzeit neue Geheimnisse gelüftet und neue Teilabschnitte dieser Welt entdeckt werden.
Seide und Schwert weiß diese Atmosphäre in der vorliegenden Form als Comic zuallerst über seine Charaktere einzufangen. Ralf Schlüters Helden sind schlank, sportlich, adrett. Diese Attribute sind nicht dazu da, weil es hübsch aussieht. Genau diese Voraussetzungen werden benötigt, um in dieser Welt voller Gefahren zu überleben. Schlüter zeichnet mit der gleichen Hingabe, mit der er auch die verschiedenen Haupt- und Nebenfiguren entwirft, auch die Monster, die gefährlichen Landschaften, die furchtbaren Soldaten, die Raubtiere … Es ist in der Tat so, dass die Gefahren in dieser Welt dominieren. Luft holen vor Anspannung? Wenn es sein muss, aber nicht lange, denn die Zeichnungen zwingen zum schnellen Lesen, während die Texte notgedrungen ausbremsen. Es ist eine sehr ausgewogene Balance zwischen erzählerischem Antrieb (Optik) und notwendiger Information (Text).
Sehr schön ist (und das darf weiter zur Norm werden) ein kleines Wie wurde es gemacht? im Anhang des vorliegenden kleinformatigen Bandes (auch als zweiteilige Albumausgabe erschienen). Eine Bleistiftzeichnung von Ralf Schlüter zeigt einiges von seiner Technik und Detailfreude. Die gegenüber gehaltene Tuscheumsetzung untermauert den arbeitsreichen Arbeitsprozess, hier genauer die peinlichst genaue Arbeit von Horst Gotta. Als Kolorist taucht im Sachen Comic sehr erfahrene Dirk Schulz die Geschichte um Seide und Schwert in das rechte Licht. Sehr feine Grüntöne herrschen im Wald und am Wasser vor. In der Nacht umgibt ein sanftes Blau die Protagonisten, während mit fortschreitender Handlung das Licht immer feuriger wird, bevor mit zunehmender Dramatik eine gewisse Düsternis mit glosendem Licht Einzug hält.
Atmosphärisch gestaltet und mit einer sehr großen Dichte erzählt, ist der erste Teil von Seide und Schwert ein Fantasy-Erlebnis erster Güte. Außerdem kommt es, und das muss auch betont werden, aus Deutschland, aus den Händen deutscher Künstler und rangiert auf Augenhöhe mit den sonst so übermächtigen frankobelgischen Publikationen. 🙂
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