Es ist eine heitere Zeit, als der kleine Peter zur Welt kommt. Alles ist grün, die Natur ist milde zu den Menschen. Sheila freut sich über den kleinen Bruder, doch sie hätte nicht dazu ausgewählt werden dürfen, ihn zu betreuen. Sie ist selbst noch ein kleines Kind und so legt sie ihren Bruder mit seinem Körbchen ahnungslos unter einem Feenbaum ab. Kurz darauf ist der kleine Junge verschwunden. Seine Mutter ist verzweifelt. Sie bittet in alter Tradition um die Rückgabe des Jungen. Schließlich wird sie erhört. Der Junge jedoch ist anders als in der Erinnerung, seine Augen leuchten nun grün.
Der Junge ist tatsächlich anders. Er hat eine besondere Beziehung zu diesem Land. Ersieht und hört mehr als andere. Und er hat andere Freunde, seltsame Freunde, wie sie sich nur in Wistman’s Wood finden lassen. Inmitten uralter Bäume stößt er auf einem scheinbar noch älteren Mann, der ihm viel von den alten Mythologien und Weisheiten erzählt. Aber Scrubby, wie Peter seit seiner Rückkehr genannt wird, kann nicht bleiben, denn seine Familie muss in der Stadt Arbeit suchen.
Es gibt eine Welt neben der Welt, doch die wenigsten Menschen gewinnen einen Einblick in beide Wirklichkeiten. Es ist eine ganz normale Familie in einer Zeit des Wandels, wie sie Pierre Dubois hier beschreibt. Das Land hat die Bevölkerung lange ernährt, sie haben sich mit ihm verbunden gefühlt, doch nun ändert sich alles. Wo vorher eine Idylle herrschte, ernährt das Land die Menschen nicht mehr und sie ziehen in die Stadt, wo es Arbeit geben soll. Viele denken so. Dubois führt den Leser auf eine gemächliche Reise in diese vergangene Zeit, zeigt wie schön das Leben auf dem Land war, auch wie geheimnisvoll, nur um die Grausamkeit und die Willkür des städtischen Lebens umso schärfer abheben zu können.
Am Beispiel des kleinen Scrubby (der durchaus auch ein ganz normaler Junge in diesen Zeiten hätte sein können, um den Leser mitzureißen) taucht der Leser (in diesem Falle ich) tief in diese Welt ein, unbewusst und an leichter Hand geführt. Der Beginn ist unheimlich, auch phantastisch, erinnert an alte Verse, in denen sich drei Hexen treffen, nur dass es hier ein Druide, ein Zwerg, ein Krieger und eine Fee sind. Und bezaubernd ist auch der Fortgang der Geschichte. Sheila, die Schwester von Scrubby, sitzt eines Abends auf der Stufe des Hauses, schaut und horcht in die Dunkelheit und ein Lächeln strahlt über ihr Gesicht. Xavier Dubois gelingt es, genau diese Atmosphäre über die gesamte Strecke der Handlung einzufangen, selbst dann, als sich die Geschichte in die Stadt hineinverlagert und das Grün der Natur dem Grau der Stadt weichen muss.
Hier liegt das Zauberhafte in Gesten verborgen, in Begegnungen. Allerdings, auch das muss festgehalten werden, sind ehrliche und uneigennützige Begegnungen in der Stadt für Scrubby weitaus seltener als auf dem Land. Dachte man als Leser zuvor, der Verzweiflung von Scrubbys Mutter wäre das Schlimmste, was dem Jungen passieren kann, sieht man sich schnell getäuscht. Der verzweifelten Person wir Platz gemacht für eine verzweifelte Stadt, die ihre Menschen quält. Und auch diese Qual, am weiteren Beispiel von Scrubby, überträgt sich auf den Leser.
Der Transport dieser Gefühle funktioniert natürlich auch dank der tollen Leistungen des illustrierenden Xavier Fourquemin. Fourquemin bildet die Realität ab, aber er zeichnet sie nicht bis ins kleinste Detail. Er gibt seinen Menschen ein eigenes Gesicht, verformt, legt Schwerpunkte und arbeitet sehr gerne mit den Ausdrücken von Augen. Zentral sind die Augen von Scrubby, der sehr groß in die Welt blickt, der immer etwas Neues entdeckt und für den alles ein Wunder zu sein scheint, ganz besonders dann, wenn er tatsächlich so etwas wie ein Wunder sieht. Dies wird deutlich, wenn Scrubby einen Blick in die andere Welt wirft. Eine sehr schöne Szene, von Fourquemin sehr liebevoll gestaltet, findet sich mit dem Tanz von Scrubbys Schwester Sheila.
In ihrer natürlichen Heiterkeit tanzt sie im Wald, ohne zu bemerken, dass sie sehr viel Gesellschaft in Form von mythischen Wesen, hat, die allesamt mit ihr feiern. Scrubby kann diese Wesen sehen, sie hingegen nicht. Fourquemin gestaltet seine Dryaden, die Nixen, die Feen, Kobolde, Leprechauns, Knockers und viele andere mit Hingabe. Ebenso verfährt er mit der realen Welt, der Stadt, ihrem Dreck, ihren Aufstanden und ihrer Gewalt. Und mit dem schwarzen Mann mit den roten Augen. Wo das Wunderbare aufhört, beginnt der Grusel, der immer stärker wird, je mehr sich Scrubby in die Kälte dieser Welt verirrt.
Auch das Farbenspiel von Scarlett Smulkowski passt sich dieser Veränderung an. Aus warmen Grün und Braun wird kaltes Grau und Blau, durchbrochen von dem Rot der Uniformen der Soldaten, einem Farbton, der wahrhaftig zu einer Warnfarbe wird.
Eine schöne und beeindruckende Geschichte, mit einem Wort: Zauberhaft. Sanft und spannend erzählt von Pierre Dubois, mit dem nötigen Feingefühl illustriert von Xavier Fourquemin. 🙂
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