Man stelle sich vor: Der Sargdeckel schließt sich. Man sieht durch eine kleine Glasscheibe hinaus, sieht die Erde sich über den Deckel ergießen, bis es finster wird. Mit der Dunkelheit kommen die Alpträume, die man in völliger Bewegungslosigkeit ertragen muss – immer und immer wieder. Kathryn Lennox ist in die Falle des aufwieglerischen Islero geraten. Dieser El Santero, bewandert in den alten Künsten, entführt seine Opfer und erschafft Zombies aus ihnen, wandelnde Tote, lebendig im Körper, geistig nur noch ihm zu Diensten. Nur der Tod des Santero kann den Fluch brechen.
W.E.S.T., das Weird Enforcement Special Team, befindet sich inmitten eines Unabhängigkeitskampfes. Eigentlich sollte das Team um Morton Chapel den Konflikt mit dem unbekannten Santero lösen, in Wahrheit werden sie ziemlich an der Nase herumgeführt und geraten in höchste Bedrängnis. Hinter den Kulissen laufen die Vorbereitung zur Angliederung Kubas an die Vereinigten Staaten unbeirrt weiter. Die Ängste der Aufständischen sind also keinesfalls Hirngespinste. Wie ernst es jedoch wirklich ist, können sie nicht einmal erahnen.
In der abschließenden Episode aus dem zweiten Zyklus von W.E.S.T. verhärten sich die Fronten und die Vorgehensweisen – auf beiden Seiten – werden rabiater. Das Titelbild der Geschichte um den 46. Staat, zu dem es so nie kam, verrät hier einiges. Morton Chapel, der Team-Leiter, muss seine Gentleman-Natur beiseite schieben, um seines und das Überleben seines Teams gewährleisten zu können. Xavier Dorison und Fabien Nury lassen ihre Hauptfiguren auf einem Drahtseil balancieren. Obwohl Chapel in der Lage ist, das Geheimnis um Islero zu lüften, hat man als Leser den Eindruck, dass alles nur noch um Haaresbreite gut geht – und manchmal eben auch nicht.
Mit dieser Technik halten die beiden Erzähler ihre Leser in atemloser Spannung. Kleine und große Dramen lösen einander ab. Joey Bishop gesteht der komatösen Kathryn Lennox seine Liebe. Islero erlebt, wie Männer vor einem Erschießungskommado gestehen, er zu sein, nur um das Idol des Widerstands zu schützen. Selbst ein Kind bleibt nicht verschont. Colonel Weyler kennt kein Erbarmen. Auf Kuba herrscht Krieg ohne Kriegserklärung. Vordergründig geht es um Macht, hintergründig um Geld und den Einfluss der United Fruit Company.
All diese Bestandteile werden sehr sorgsam und gut aufeinander aufbauend zusammengestellt. Wie auf einer Leiter bildet hier jedes Detail eine Sprosse bis hin zum unvermeidlichen Höhepunkt – der wahrscheinlich anders ausfällt, als es mancher Leser zu Beginn gedacht haben mag. Stück für Stück schieben die Autoren die Hatz auf Islero zurück und stellen den Freiheitskampf Kubas in den Vordergrund.
Christian Rossi, der bereits zuvor eine tolle Arbeit als Zeichner und Kolorist ablieferte, ruht sich nicht auf seinen Lorbeeren aus, sondern steigert sich noch einmal – ein persönlicher Eindruck, der von den außerordentlich dramatischen und sehr menschlich dargestellten Ereignissen gestützt wird. Es sind zahlreiche Momente, die den Leser in seinen Bann ziehen, vornehmlich solche, in denen Menschen vor einer Entscheidung stehen – oder schlichtweg rot sehen.
Dieser Effekt wird von Christian Rossi bei Islero eingesetzt, in jener beschriebenen Szene, in der sich die zum Tode Verurteilten für ihn aufopfern. Und er verwendet bei Bart Rumble, einem Agenten des Teams, einen ähnlichen Effekt. In der wie zuvor verwendeten Farbpalette von braun, orange, blau und grau sowie einigen Zwischentönen stechen die roten Farbtupfer hervor, mögen sie noch so klein sein. Der Anstrich wirkt nach wie vor wie aus dokumentarischen Aufnahmen entnommen, macht das Eintauchen in die Geschichte natürlicher. Farbaufnahmen wären hier fehl am Platz, würden den Eindruck trüben, der Abstand und gleichzeitig auch Nähe gestattet. Eine Geschichte aus vergangener Zeit kann nicht mit modernen Worten erzählt werden. Christian Rossi hält sich mit seiner farblichen Interpretation auch im übertragenen Sinn daran.
Ein gelungener zweiter Teil dieser Geschichte um Kuba. Die bisherigen dramatischen Fäden werden mit erhöhter Geschwindigkeit fortgeführt. In jeder Hinsicht ist diese Ausgabe von W.E.S.T. eine tolle Abenteuergeschichte, die sich im wahrsten Sinne des Wortes sehen lassen kann. 🙂
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