Seit dem Mordfall hat Sheriff Stuart diese Töle am Hals. Dieser Westentaschenköter kläfft und sabbert und erleichtert seine Arbeit keineswegs. Der attraktive Neuankömmling, Miss Gatling, macht es ihm auch nicht einfacher, erlebt er doch durch sie romantische Anwandlungen, die ihn gerade jetzt zur Unzeit treffen. Es hilft nichts. Die Umstände zwingen ihn schließlich zur Aktion … Sehr viel weiter bringt es ihn aber nicht, denn das dunkle Geheimnis hinter den Vorkommnissen konnte niemand vorhersehen.
Auch ein Sheriff braucht mal Hilfe. Nicht nur James Garner oder ein Gary Cooper wussten, wie wichtig es ist, dass die Bevölkerung hinter ihrem Gesetzeshüter steht. Auch Sheriff Stuart, ein leibhaftiger Rock Hudson in einem kleinen sehr provinziellen Nest muss sich neuerdings mit einem Mordfall herumschlagen, der selbst für den Wilden Westen außergewöhnlich ist. Ein Farmer wird schon mal ermordet, das kommt vor, dass dabei allerdings eine seiner Kühe auf einem Baum gefunden wird, kommt eher selten … nein, eigentlich gar nicht vor.
Mit dieser Ausgangssituation startet Eric Herenguel in seinen Zweiteiler über mysteriöse Vorgänge im kleinen Ort Providence im amerikanischen Staate New Hampshire im Jahre 1880. Mit wahrer Leichtigkeit enthüllt Herenguel eine Gegend, in der der Indian Summer sein strahlend goldorangefarbenes Licht zu verbreiten beginnt und aus dem Land eine wunderbare Märchenwelt schafft. So weit kann der Leser noch schnell folgen, mag auch schnell folgen, bis diese Postkartenidylle von einem Mordfall erschüttert wird, dessen Ergebnis in einer Rückschau besonders furchtbar ist.
Ein wenig mag sich der Leser an Der Pakt der Wölfe erinnert fühlen. Die Szenerie erinnerte dort auch an einen Western und konnte durch ihre ungewöhnliche Umsetzung einen Erfolg bei den Zuschauern verbuchen. Auch Eric Herenguel setzt auf eine sehr interessante Genre-Mischung. Der Mord ist geschehen, weitere folgen. Der Sheriff kann das Geschehen weder stoppen, noch aufklären. Ein Mann von außerhalb, eine Art Kopfgeldjäger, ein Halunke wird von den Einwohnern hinzugezogen, damit der Mörder endlich gefasst wird. Dies mag in seiner Konstellation ein wenig an Der weiße Hai erinnern, erhält aber durch den Hintergrund der Geschichte eine vollkommen andere Dimension.
Eine aufkeimende Liebe zwischen einer jungen Dame namens Cathy Gatling und dem Sheriff, ein besorgtes Dorfvolk, das immer hysterischer wird, ein brutaler Kopfgeldjäger, ein seltsamer Dorfpfarrer mit einem dunklen Geheimnis. Sorgsam sind die Zutaten verrührt und werden auf eine immer höhere Temperatur gebracht – bildlich gesprochen.
Western trifft auf eine Horrorvariante von Prinzessin Mononoke: Die von Herenguel entworfenen Figuren könnten aus der japanischen Mythologie stammen. Ebenso würden sie in ein gutes Horrorspektakel eines Computerspiels passen. Ein wenig erinnert das Auftreten dieser Figuren – siehe auch das Cover – an einen uralten Schwarzweißfilm: Night of the Demon, auch bekannt als Curse of the Demon von 1958. Das gefakete Cover eines alten Pulp-Magazins, im Anhang des Albums zu finden, erinnert sehr an das alte Kinoplakat des erwähnten Gruselstreifens. Wie Herenguel mit den Erwartungen des Lesers spielt, die zweifellos jeder hat, der Western einmal auf der Leinwand oder im Fernsehen sah, ist rundum gelungen. Wie er sehr bedächtig die neuen Elemente in das altbekannte Thema verwebt, ist unterschwellig, gruselig, fast ein wenig wie das Flair einer Akte X Folge. Der Leser glaubt mehr zu wissen als die Akteure und liegt völlig daneben. Er weiß nicht einmal die Hälfte.
Grafisch ist die Darstellung eine vollkommen feine Sache geworden. Das Zusammenspiel von althergebrachten Techniken – klassisch gezeichnet, mit Chinatinte, farbiger Tinte, Gouache koloriert – und neuer Möglichkeiten – Nachbearbeitung am Computer – ergibt ein perfektes, auch sehr organisches Endergebnis. Die unregelmäßigen kleinen Verläufe, das Zusammenspiel zwischen Pigmenten und Untergrund, das Ineinanderfließen der Farben wird von Herenguel auf den Punkt genau eingesetzt. Farbe lässt sich dort sehen, wo sie nötig ist. Optisch wirkt es romantisch, freundlich, wie im erwähnten indianischen Sommer. Im Gegensatz erscheinen die Monster, die auch einem Designer von Resident Evil eingefallen sein könnten.
Herenguel setzt auf Realismus, verbindet dies aber auch mit einem leichten Karikaturstrich, wie ihn auch ein Henri de Toulouse-Lautrec zu Papier bringen konnte und damit den Kern einer Figur optisch einfing. Auch hier findet sich das Spiel mit den Gegensätzen, wenn ein Fiesling mit dem Aussehen eines klassischen Westernhelden wie Buffalo Bill auftritt. Wie täusche ich die Erwartung des Lesers und hebe so die Spannung? Dieses Geheimnis gibt Herenguel nicht preis, aber wer genau hinschaut, kann einige Techniken ausmachen und vielleicht daraus lernen.
Vor einem hervorragenden Outtake (eigentlich nur im Film möglich) schließt das Album mit einem Cliffhanger, wie er so gerne in den alten Western praktiziert wurde. Für einen Zeichner wie Herenguel, der Steve McQueen als Westernhelden aufwuchs, sind diese dramatischen Fortsetzungsenden bestimmt kein unbekanntes Element.
Sehr gut gezeichnet, fast noch besser erzählt, mit sympathischen Hauptfiguren und einem gruselig gut gemachten Geheimnis, welches für den abschließenden zweiten Teil noch eine Menge Antworten übrig lässt. Wer das Western-Genre einmal unheimlich erleben möchte, sollte einen ausgedehnten Blick riskieren. 🙂
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