Die Leute im Dorf haben sich an Serge gewöhnt. Das La Raviole, das kleine Restaurant, hat die Menschen begeistert und ihnen einen kleinen Ausschnitt auf eine größere Welt geliefert. Etwas mehr Zivilisation ist eingekehrt, etwas mehr Manieren, ja auch etwas mehr Freundlichkeit. Serge ist ein Mann. Man könnte fast sagen: Er ist der Mann im Dorf, solange die Ehemänner draußen in den Wäldern sind und Holz schlagen. Sie wissen nichts von dem Kerl, der sich da daheim bei ihnen ins Nest gesetzt hat und den Menschen – insbesondere den Frauen – auf seine Art den Kopf verdreht hat.
Dabei beginnt alles so fröhlich. Gaetan hat Geburtstag. Die Geschenke, die er erhält, sind zwar ein wenig merkwürdig, so auch ein Paar Damenschuhe. Aber insgesamt ist es ein fröhlicher Tag, der erst später, aus anderer Sicht, wie der Schlusspunkt eines Kapitels wirkt. Die Anwesenden möchten ihm seine Geschenke gerne wieder abnehmen, da er sich damit lächerlich macht. Doch Gaetan, erwachsen zwar, aber mit dem Verstand eines kleinen Kindes versehen, will sich die Damenschuhe und die Kochmütze nicht mehr nehmen lassen. Kurzerhand nimmt er Reißaus und wird von den heimkehrenden Männern im Wald sitzend aufgefunden. Was Gaetan ihnen erzählt, klingt lächerlich. Ein Restaurant? Was soll denn ein Restaurant in ihrem Nest? Die Heiterkeit über diesen Umstand weicht bald der Ernüchterung und der Verwunderung und schließlich …
Die Männer sind zurück aus dem Wald. Es sind gestandene Mannsbilder, die in diesen 20er Jahren des letzten Jahrhunderts aus dem Wald stapfen und alles wie gewohnt wiederzufinden glauben. Regis Loisel und Jean-Louis Tripp haben in den ersten beiden Folgen mit Trauer und Wünschen gespielt. Sie brachten Hoffnung in die Handlung und skizzierten das Miteinander einer streng begrenzten Anzahl von Menschen fernab der Großstädte irgendwo in den kanadischen Wäldern. Mit Serge, dem Fremden, der auf seinem Motorrad liegen bleibt und während des Winters nicht weiterkommt, setzten sie eine Art Kuckuckskind in dieses Nest.
Serge ist zuerst ein Fremdkörper. Die einen beobachten ihn misstrauisch, eingefleischte Jungfern zerreißen sich gar das Maul über ihn und nutzen jede Gelegenheit, um ihren Unmut in der Gegenwart des Dorfpfarrers kundzutun. Schließlich lebt er – mehr oder weniger – mit einer Frau unter einem Dach, die erst vor kurzer Zeit Witwe geworden ist. Serges Idee, ein Restaurant zu eröffnen, kratzt weiter an der eingefahrenen Oberfläche des Dorfes. Genau in dem Moment, als die ersten Grenzen niedergerissen worden sind, die verbliebenen Bewohner des Dorfes sich mit dem Neuling angefreundet haben, kommt die andere Hälfte des Dorfes nach Hause.
Loisel und Tripp legen ihre Geschichte auf verschiedenen Ebenen an. Es ist einerseits ein Sittenbild einer Gemeinschaft, deren Vorstellungen heute vielerorts auf Unverständnis treffen werden – nicht überall natürlich. Sie zeichnen einen Umschwung, in dem ein Element, ein völlig unerwartetes noch dazu, vielen Leben eine leicht andere Sichtweise, eine andere Richtung gibt. Aus der Heiterkeit des Beginns der Geschichte wird langsam eine Bedrohung, die sich immer höher auftürmt, aufbläht, bis sie nur noch eines kann: Platzen.
Die Männer gehen zur Attacke über, mit dem einzigen Mittel, mit dem sie etwas anfangen können: Gewalt. Denn Worte sind ihnen fremd. Plötzlich sollen sie mit ihren Frauen diskutieren. Nicht nur das, ihre Frauen widersetzen sich ihnen regelrecht. Und das alles wegen dieses Fremden!
Auf überaus geschickte, fast heimliche Weise, setzen Loisel und Tripp ein Steinchen an das nächste, bis das Bild komplett ist. Es ist eine Schilderung, die spannend wie ein Krimi abläuft, von dem der Leser gleich zu Beginn weiß, dass es nicht gut ausgehen kann. Doch er ist bereits so eng mit den Charakteren verbunden, dass er nicht wegschauen kann.
Aber die beiden Autoren und Zeichner wären nicht über all die Jahre so erfolgreich, würden sie sich in altbekannten Bahnen bewegen und nicht mit den Instrumentarien einer Geschichte gekonnt spielen können. So wird der eine oder andere unerwartete Haken geschlagen und am Ende …
Das wird nicht verraten. Sinnbildlich jedoch läuft noch eine zweite Geschichte ab. Zuerst unbemerkt, dann immer offensichtlicher wird die Geschichte eines Hundes, einer Katze und einer kleinen gelben Ente erzählt. Es ist ungewöhnlich genug, dass sich Hund und Katze verstehen. Wie sich die Beziehung zu der Ente entwickelt, muss der Leser selber herausfinden. In jedem Fall ist es ein gutes Beispiel, wie die beiden Autoren ohne ein einziges Wort, nur mit ganz kleinen Szenen Emotionen vermitteln und die gesamte Handlung noch stärken.
Eine geniale Geschichte, die auf den ersten Blick klein aussieht, aber alltägliche Dramen und menschliche Schicksale in einem Comic beschreibt, wie es der Leser sonst eher aus der gehobenen Literatur gewohnt sein mag. Die Spannung wächst unmerklich, aber Loisel und Tripp gönnen dem Leser auch stets das kleine Schmunzeln zwischendurch. Eine schöne Geschichte mit unaufdringlichen Denkanstößen. 🙂
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