Einst gab es Drachen. Sie wurden verehrt und gefürchtet. Die Menschen schrieben ihnen besondere Kräfte und Fähigkeiten zu. Wenn die Zeiten schlecht waren, insbesondere die Ernten, opferten sie auch mal einen Menschen, in der Hoffnung, die Drachen würden alles zum Guten wenden. So kam Nugua zu den Drachen. Welche Einfalt? Die Drachen verstanden die Absichten der Menschen, konnten diese aber nur belächeln. Wie sollte ein Drache denn bloß von so einem Haps wie der kleinen Nugua satt werden?
Yaozi, der Drachenkönig des Südens, nahm sich der Kleinen an. Wie können sie glauben, meine kleine Nugua sei aufgefressen mehr wert als lebendig? Drachen sind sanftere Geschöpfe, als die Menschen sich vorstellen können. Aber ihre Zeit auf Erden ist endlich. Yaozi bereitet Nugua nicht auf diese schreckliche Erkenntnis vor. Eines Tages erwacht Nugua morgens und die Drachen – sind fort.
Hoch oben in den Lüften existiert der Aether. Aether, so behauptet es das Wolkenvolk, ist der Atem der Drachen. Seit 250 Jahren saugen Aetherpumpen dieses Luftgemisch in die Wolken und verleihen ihnen so Festigkeit. Seither treibt das Wolkenvolk durch die Lüfte, hoch oben und verweigert sich dem Fortschritt und dem Kontakt zu anderen Völkern, aus sturer Arroganz und Angst vor dem Neuen. Doch in Zeiten von Schwierigkeiten und Problemen bedient man sich gerne derer, die sonst unliebsam sind und – wie hier – ihr Leben am Rande der Gesellschaft führen. Als die Pumpen nicht mehr genügend Aether fördern, senkt sich das Wolkenland ab. Nun muss Niccolo, fast noch ein Knabe, die Drachen finden. Er ist die einzige Hoffnung, die das Wolkenvolk in diesem Augenblick hat.
Dies ist nur der Auftakt zu der inhaltlich sehr dichten Geschichte von Kai Meyer, die nun als Comic-Umsetzung erscheint. Deutsche Comic-Veröffentlichungen sind selten. Ähnlich wie der Film sich einer literarischen Vorlage bedient, wurde auch hier ein Bestseller von Kai Meyer adaptiert. Vor einer phantastischen Kulisse entfaltet sich das große Abenteuer von Niccolo im alten China, einem Land voller Mystik und Magie.
Sorgsam gesetzte Akzente in Form von originellen Einfällen machen aus dem Land eine stets gefährliche Umgebung.
Niccolo, dessen Landung auf der Erde ihm beinahe das Leben gekostet hat – die Wolkeninsel befindet sich inzwischen nahe an den Bergen, aber so nahe nun auch wieder nicht – trifft am Boden auf Wisperwind, eine mutige und ausgezeichnete Kriegerin. Sie begleitet ihn ein Stück. Bald darauf ist Niccolo wieder allein auf dem Weg. Zusammen mit dem Jungen erforscht der Leser eine unbekannte und brutale Welt, in der nicht nur die Mongolen eine Gefahr sind.
Wie in einem Road-Movie bestimmt die Suche die Reise, bringen neue Weggefährten neue Erkenntnisse und für den Leser viele Überraschungen, die zu keiner Zeit Langeweile aufkommen lassen. Gerade noch sind sie zu zweit, da sind sie auch schon dritt – eine merkwürdige, aber auch sehr interessante Wandergemeinschaft. Und nicht zuletzt mehren sich die Schwierigkeiten daheim auf der Wolkeninsel.
Man muss die Handlung genießen können, ohne die Vorlage von Kai Meyer zu kennen. Yann Krehl gelingt die Umsetzung sehr schön, kurzweilig. Es ist eine Handlung, die sich während des Lesens gut anfühlt, in der man als Leser schnell heimisch wird. Mit sympathischen, auch komischen Charakteren wie dem Drachen, der keiner ist, und einer Landschaft, die stets irgendwie verwunschen scheint, handelt es sich genau um jene Art von Geschichten, bei denen man als Leser stetig umblättert und die Zeit vergisst.
Kai Meyer persönlich äußert sich bewundernd über Krehls Fähigkeit, 1200 Seiten Roman auf 400 Seiten Comic herunterzubrechen, doch, wie der Leser schnell feststellen kann, ohne ihn zu verbiegen.
Die Künstler Ralf Schlüter, Horst Gotta und Dirk Schulz gestalten diese aufwändige Welt und ihre Figuren. Allen voran gibt Zeichner Ralf Schlüter dem Szenario ein Gesicht. Niccolo ist eine jener klassischen Jungenfiguren – auch optisch – die jedem begeisterten Leser immer wieder in der Literatur begegnen. Schlank, sportlich, mit schwarzen Haaren, forsch, etwas unruhig wirkend, wie das überaus schmalen Menschen zueigen ist, fügt er sich mehr und mehr in seine Umgebung ein, verschmilzt mit ihr. Schlüter entwirft ein eigenes China und begeht nicht den Fehler die klassischen chinesischen Zeichnungen zu kopieren. Er parodiert sie auch nicht, wie es in Disney-Produktionen geschieht, in denen kulturelle Anleihen europäisiert oder amerikanisiert werden. So ist etwas ganz eigenständiges und schönes entstanden.
Eine saubere Tuschearbeit (Horst Gotta) und eine verschwenderische Kolorierung (Dirk Schulz) machen aus dem vorliegenden Werk sozusagen einen abendfüllenden Film. Jedenfalls kann man sich bei der Lektüre des Bandes dieses Eindrucks nicht verschließen.
Eine prachtvolle Geschichte braucht eine prachtvolle Inszenierung. Dies ist den versammelten Künstlern und Machern auf das Beste gelungen. Für junge Leser und jung gebliebene Leser ist Kinoabenteuer auf Papier entstanden. Und das allerbeste: Es wird fortgesetzt. 🙂
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