Alice hat einen Spiegel. Dieser Spiegel bildet nicht nur das ab, was sich vor ihn stellt. Er ist auch magisch. Er beobachtet fast schon sezierend, kühl, distanziert und ist so der vollkommene Gegensatz zu den Geschehnissen. In den Ausschnitten seines Blickfelds geht es zur Sache, wild, ungestüm. Alice vertreibt sich die Zeit mit Sex. Sonst hat sie nichts, nur den Spiegel natürlich, ein Relikt. Aber jetzt? Was ist sie jetzt? Diese Frage hängt über ihrer Existenz, aber Alice hat keine Lust, sie zu beantworten. Obwohl, Lust hat sie schon, auf andere Frauen, zur Not auch auf sich selbst.
Gealterte Kinder
Diese Überschrift, die Alan Moore, Autor dieser Trilogie, dem ersten Band voranstellt, beschreibt perfekt in zwei Worten den Kern der gesamten Handlung.
Aber um den Kern herum ist viel Platz für weitere Deutungen.
Alan Moore nimmt den Leser nicht an die Hand. Er verrät nicht, mit keiner Silbe, was er hier eigentlich ausdrücken will. Ist es anspruchsvolle Pornographie – sofern es so etwas überhaupt gibt? Ist es eine Verbeugung vor der Literatur, die sehr früh dort aufhört, wo Moore mit großen Schritten weitergeht? Will er kleine Mythen, ja, beinahe Ikonen der Literatur zerstören, indem er sie alt und nackt, eher bis auf die armselige oder verlorene Seele entblößt, präsentiert?
Will er den Leser (oder wieder einmal die Gesellschaft) mit einer offensichtlichen Provokation hereinlegen, die am Ende keine ist, sondern nur ein Experiment und das nicht einmal sehr gewagt, sondern wohl berechnet?
Alice, Dorothy Gale und Wendy Darling sind in die Jahre gekommen.
Lady Fairchild hat eine Vorliebe für junge Frauen entwickelt. Mit höchstem Interesse verfolgt der Spiegel die Szenen und kleinen Episoden, wie auch die Stellungnahmen der Bediensteten und die eher tapsigen Annäherungsversuche eines Hoteldirektors.
Dottie Gale, Fräulein Gale, ist in die Jahre gekommen. Die Zeiten in Oz sind lange vorbei und auch Wendy blickt zuweilen sehnsüchtig zu den Tagen des Fliegens an der Seite von Peter Pan zurück …
Ganz so einfach ist es dann doch nicht.
Das Leben scheint aus den Figuren verschwunden zu sein und um zu retten, was noch zu retten ist, flüchten sie sich in sexuelle Phantasien. Mann/Frau, Frau/Frau, Mann/Mann, Alt/Jung, verschiedenste Stellungen und Techniken, zu zweit, zu dritt, in größeren Gruppen, orgiastisch, harmlos, im höchsten Fall anstrengend, Neugier, Erinnerungen. Sex ist Leben, bedeutet Gefühl. Sex liefert den Beweis, am Leben zu sein.
Ist da sonst gar nichts mehr? Im Leben der drei Frauen jedenfalls nicht, die sich zuerst kennen, dann lieben lernen, Erinnerungen austauschen, darin schwelgen, so etwas wie Freundinnen werden. Alan Moore entblößt sie als sinn- und nutzlose Gestalten, aber nicht hirnlos. Sie sind einsam und dekadent und zu keiner Zeit kann die Darstellung ihrer sexuellen Ausschweifungen reizen, antörnen, erotisch sein.
In einer Blumen- und Bienenoptik, einer jugendstilartigen Imitation, einer frühlingshaften Lieblichkeit geht es pornografisch zur Sache und wird nichts verheimlicht oder verschleiert. Ein alternder Gentleman trauert einem verlorenen Sexualleben hinterher, ergötzt sich an erotischen Texten und Bildern, lauscht den Ausschweifungen anderer, fühlt sich zuerst von einem anderen Mann genötigt und lebt dann doch ein kleines schwules Abenteuer aus. Peter Pan führte die drei Kinder zu höchsten Höhen, doch anders als es seinerzeit James Matthew Barrie konzipiert und erdacht hat.
Das blumige Aussehen, eine ziemliche grafische Leistung von Melinda Gebbie, ahmt die Bonbon-Optik andere Darstellungen dieser bekannten Figuren nach, sei es aus dem Haus Disney oder auch muntere Klassiker wie Der Zauberer von Oz.
Es imitiert naive Kunst, aber auch sehr verwackelte, leicht primitiv aussehende grafische Techniken. Abgrenzend malt Gebbie hervorragende Tuschzeichnungen, die an Jugendstil erinnern. Randzeichnungen erinnern an die Geschichte von den schwarzen Buben. Hauptsächlich lässt sich eine Linie finden, die immer wiederkehrt, aber daneben wird viel ausprobiert, sind die Grafiken auch bewusst einfacher gehalten. Irgendwann verlieren sich die traumatisierten Figuren in einem abschließenden Traum – oder auch Alptraum – der aus einem seitenlangen paradiesischen Gerammel in einem irdischen Alptraum namens Krieg mündet.
Die Frauen bleiben zurück, die Männer verlassen das Hotel, den Mikrokosmos. Sie können sich dem kommenden Krieg nicht entziehen. Die Frauen treten die endgültige Flucht in den ultimativen und dauerhaften Orgasmus an, eine Reise ohne Wiederkehr. Am Ende ist Sex zur Sucht geworden. Alle können nicht mehr anders, in der Erinnerung, in der Gegenwart, beiläufig, zur Entspannung, die eigentlich ständig gefragt ist.
Und nach einem schier endlosen Sex-Marathon wird die Lust langweiliger und langweiliger, wird der Sex monströs, bedrohlich.
Text und Bild gehen Hand in Hand, täuschen, versetzen schließlich in Staunen, wenn echte Gefühle gewaltsam durchbrechen und die sexuellen Handlungen zu einem oberflächlichen bedeutungslosen Mischmasch machen. Es ist Alan Moores Können zuzuschreiben, dass er den Leser in einen Strudel hinab zu ziehen vermag, der all das anrührt, was Menschen im Unterbewusstsein, im Traum oder auch bewusst mit sich herumschleppen oder glauben, dass sie es mit sich herumschleppen – nicht umsonst weckt einer der Akteure die Erinnerung an einen Psychoanalytiker, dessen Naivität und Schlussfolgerungen hier immer für einen Lacher gut sind.
Jeder Leser muss am Ende selber wissen, was er aus diesem Werk für sich mitnimmt. Literatur und Pornografie schließen einander nicht aus, was bereits eine Reihe von Autoren vor Alan Moore bewiesen hat. Ob Moore mit diesem Werk sich dazu gesellen kann, ob er die sich eigens gestellte Aufgabe erfüllt hat, ob es genial, gewitzt oder platt ist, lässt sich schwerlich sagen. Es ist eine Entmystifizierung von Literatur, bei der man sich auch immer in der Position wähnen sollte, dies überzeugend tun zu können. Wer meint, Alan Moore habe diesen Standpunkt erreicht und pornografische – nicht erotische – Darstellungen vertragen zu können, sollte einen Blick riskieren. Alle anderen besser nicht. 🙂
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