Rio flieht. Doch wie so oft, ist die Absicht leichter in Gedanken gefasst, als in der Realität umgesetzt. Das Paradies ist in höchstem Maße gefährlich. Von der berühmten Schlange gibt es derer viele und hinter den grünen Auen wartet ein Reich, gruselig und grausam, mit furchtbaren Kreaturen, die mit Engeln gar nichts mehr gemein haben. Ihre Flucht dauert nicht lange. Nicht Engel sind es, die sie aufspüren, sondern eine Kreatur namens Freiaon. Da Rio über keinerlei Besitzzeichen verfügt, kommt sie ihm gerade recht. Das Wesen nimmt sie mit, denn für sie ist bestimmt ein guter Preis zu erzielen.
Jezephar wartet auf Rio bedrohlich auf dem Plateau. Die Stadt mit dem fremdartigen Namen ist eine verschachtelte Trutzburg, monströs in ihrer Architektur, verwinkelt, alt, ungastlich. Gewalt und das Recht des Stärkeren herrschen vor. Rio erweckt Aufmerksamkeit und wechselt bald den Besitzer. Doch Lamia, die neue Besitzerin, ist nicht weniger harmlos als der ruppige Freiaon. Sehr bald schon sinnt Rio wieder über Flucht nach, aber in Jezephar ist das viel schwieriger.
Neben dem allgegenwärtigen Verlangen nach Seelen ist Leidenschaft einer der wichtigsten Antriebe in dieser merkwürdigen Welt, die sich Engel und Dämonen teilen. Rio, nun in dieser Welt auf der Flucht, muss endgültig am eigenen Leib erfahren, dass nichts, was sie sich jemals unter Titel wie Paradies oder Hölle vorstellte, irgendeinen Wert besitzt. Stephen Desberg lässt das Szenario immer apokalyptischer werden. Rio wird zum Stolperstein einer uralten Ordnung, die für die Sterblichen nicht rechtens ist, so doch wenigstens eine gewisse Funktionalität gezeigt hat. Diese Stabilität, so zerbrechlich und falsch sie ist, kippt nun aus verschiedenen Beweggründen.
Mein Gott! Wie konntest du uns das nur antun?
So lautet die Frage von Rios Vater an den Herrn, von dem nicht einmal mehr sicher ist, ob er existiert. Zwar ist die Existenz der Engel bewiesen, aber warum lässt der Herr der Heerscharen diese unmögliche Entführung zu? Dabei weiß Rios Vater nicht, was der Leser weiß. In Wirklichkeit steht es noch viel schlimmer um seine Tochter. Als Leser gibt man sehr bald keinen Pfifferling mehr für Rios Leben, da auch sie selbst bereit scheint, in dieser unwirklichen Umgebung einen Schlussstrich darunter zu ziehen.
Dramatik bestimmt einen großen Teil der Handlung. Sehr viel weniger als bisher bleibt den auftretenden Charakteren – wie auch dem Leser – Zeit zum innehalten. Der Wechsel des Handlungsortes, besser die Erweiterung desselben, sorgt für weitere Abwechslung. Rio, obwohl die schwächste Figur in diesem Spiel, ist die wahrhaft aktive Person, während viele andere ihre Rolle spielen oder sich in ihr Schicksal fügen. Rio hat eigentlich keine Chance, aber sie rennt.
Der Wechsel des Schauplatzes scheint auch Henri Reculé gefallen zu haben. Bilder und Farben sind intensiver, besonders letztere leuchten regelrecht. In den finsteren Gassen, den Gladiatorenarenen reißen Lichter Gesichter und Körper aus der Dunkelheit hervor. Die Wärme der Laternen und Kerzen steht im vollkommenen Gegensatz zu den Szenen. Frauen bekämpfen sich bis aufs Blut, um nur etwas länger zu überleben, damit nicht sie es sind, die als Seelenspender ihr Leben aushauchen – im wahrsten Sinne des Wortes. Rio durchlebt eine richtige Nacht in Jezephar, doch mit Sonnenaufgang, dem Wechsel in die hellere paradiesischere Umgebung wird es keineswegs besser für sie.
Reculé spielt mit optischen Eindrücken, kann phantastische Figuren erfinden und diese echten Lebewesen der Erde gegenüberstellen. In der Gestaltung tobt er sich richtiggehend aus und reiht eine Idee an die nächste. Das Szenario gewinnt dadurch enorm an Lebendigkeit.
Fernab der christlichen Mythologie gibt sich die dritte Episode als ein handfestes Fantasy-Abenteuer ohne Wenn und Aber. Gestalterisch ist es einer der Höhepunkte der Reihe und absolut spannend von der ersten bis zur letzten Seite. Da es sich um eine permanente Flucht handelt, ist eine Vorkenntnis der bisherigen Geschehnisse zwar wünschenswert, aber nicht unbedingt erforderlich. 🙂
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