Es ist nicht leicht, Undercover in einer Organisation zu arbeiten, an deren Spitze ein psychopathischer Intellektueller mit außergewöhnlichen analytischen Fähigkeiten steht. Es ist nicht leicht, unentdeckt zu bleiben. Und während der meisten Zeit ist es am schwierigsten, überhaupt zu überleben. Es sei denn, man verfügt über gewisse Fähigkeiten, die einen selbst zu etwas besonderem machen. Holden Carver ist solch ein Mann. Menschen mit besonderen Fähigkeiten sind in einer Welt mit Superhelden und Supergaunern gar nicht einmal so selten. Menschen, die diese Fähigkeiten nicht an die große Glocke hängen, schon.
Carver kann Schmerz kanalisieren und weitergeben. Aus Schmerz wird eine Art Strom. Diese Fähigkeit führt zu allerlei Überraschungen – zumeist bei jenen, die Carver gerne unter die Erde schicken würden. Carver nutzt diese Fähigkeit nicht häufig, nur wenn er dazu gezwungen wird. Obwohl er in einer Organisation arbeitet, die Kaltblütigkeit und Professionalität erwartet, sind eben diese Fähigkeiten nicht sehr dicht gesät.
Viele sind Freaks, deren Schwächen sich der Mann an der Spitze, Tao, mit Erfolg zunutze macht.
Die straffe Organisation seines Gangster-Imperiums steht im totalen Gegensatz zu Taos Zielen: Chaos. – Oder ist es einfach nur so, dass außer ihm niemand die weitreichende Planung versteht?
Ed Brubaker ist nicht nur back in town, er bleibt auch seinem ureigenen Genre treu, dessen Wiederbelebung er im Comic stark beeinflusst hat. Erst jüngst erschien eine vorbereitende Geschichte aus dem Wildstorm-Universum, in dem der Leser Bekanntschaft mit den Gangstern in einer Superhelden-Welt machen konnte (Point Blank). Brubaker hatte dieses Konzept auch schon beim guten alten Batman angewendet (Gotham Central). Hierzulande zündete dieser Ansatz aber nicht so sehr.
Hier nun ein neuer Versuch, ein neuer Anlauf, mehr Realismus in die Superhelden-Ecke zu bringen, dorthin, wo das Fußvolk nur mit großen Augen zu den fliegenden Gestalten am Himmel blicken kann.
Allerdings – und das mag zunächst für den Leser verwunderlich sein – schaut so gut wie niemand mit Bewunderung oder Staunen auf die fliegenden Gestalten. Im Gegenteil, bei den meisten meldet sich beim Anblick dieser Figuren Abscheu, Desinteresse, Langeweile. Unten am Boden kochen die Gangster vielfach unbe(ob)achtet ihr Süppchen, so wie Tao seine weltweiten Spielchen treibt.
Brubaker entwirft hier nicht nur das Szenario eines Undercover-Agenten, dessen Grenzen langsam verschwimmen, sondern er baut einen Hintergrund, der einen Verschwörungsautoren wie Dan Brown begeistern sollte. Die Insel, auf der sich die wahren Herrscher dieses Planeten treffen und über die Zukunft der Welt entscheiden, ist zwar nicht neu, aber wie die selbst ernannte Crème de la Crème der Menschheit von Tao hinters Licht geführt wird, ist lesenswert und gehört neben vielen anderen ausgefeilten Bausteinchen zu den Bestandteilen, die den ersten Teil von Sleeper besonders dicht erscheinen lassen.
In diesem Zusammenhang ist die Erscheinungsweise, die Zusammenfassung mehrerer Ausgaben, sehr sinnvoll, da die Fülle der Informationen auch dazu angetan ist, das eine oder andere Detail in Vergessenheit geraten zu lassen, wenn zu viel Zeit zwischen den Erscheinungen liegt.
Brubaker zwingt seine Leser zum Aufpassen.
An Brubakers Seite arbeitet Zeichner Sean Phillips. Die beiden Comic-Macher sind bereits mit Criminal ein eingespieltes Team, eine Reihe, über die sich sogar der Meister persönlich, Frank Miller, löblich und ein wenig neidig äußerte.
Das Wesentliche ist der Kern von Phillips’ Bildern. Kein langes Drumherum, keine aufwändige Inszenierung. Stimmungsvoll ist sie, aber sie setzt nichts ein, das den Lesern vom Lesen und Umblättern ablenken könnte. So ist es kein Wunder, dass ein Miller hier auch ein wenig seine Handschrift wieder erkennt, wie er sie in Sin City zu Papier brachte.
Aber Phillips gönnt sich dann noch etwas mehr Aufwand und Seitenaufteilung. Er lässt das Auge des Lesers gerne tanzen. Nichts ist auf einer Seite so aufgeteilt, wie es auf der nächsten oder irgendeiner anderen aufgeteilt ist. Manchmal, für schockierende Momente, gönnt Phillips der Szene auch eine komplette Seite. Insgesamt aber ist einer Befürworter einer Art Mosaik-Technik, die er wie eine unregelmäßige Leiter anlegt, an der sich der Leser herunterhangeln kann. Auch hier muss der Leser erhöhte Aufmerksamkeit mitbringen, um jede Sprosse zu treffen.
Ohne Schnörkel, Superhelden Nebensache – Ed Brubaker und Sean Phillipps lassen knallharte Typen, Männer wie Frauen, auf die Comics los. Man gewöhnt sich langsam an die Hauptfigur Holden Carver, aber wenn man einmal mit ihm sympathisiert, dann heißt es nur noch: Mitfiebern! 🙂
Sleeper 1 – Das Schaf im Wolfspelz: Bei Amazon bestellen