Ist man(n) ein Feigling, wenn man(n) weiß, wann es Zeit ist, die Kurve zu kratzen? Wenn Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden? Ganz besonders dann, wenn die Partner aus kleinen Gaunern und Schwerverbrechern bestehen. Leo kennt sich aus. Es würde ihm im Traum nicht einfallen, sich auf seine Partner zu verlassen. Leo ist ein Profi. Als solcher macht man seine Arbeit aus einem einfachen Grund gut: Man will nicht im Knast landen. Diejenigen, die sich auf der Flucht unbedingt wild ballernd mit den Cops anlegen müssen, sind Idioten – und meist auch schnell tot.
Lange führt Leo ein gutes Leben. Er arbeitet allein, macht kleine Fischzüge und kommt klar, bis zu dem Tag, als ein alter Bekannter namens Seymor und ein neuer Bekannter, ein Cop, bei ihm vorstellig werden. Es soll eine leichte Beute sein. Aber, wie Leo so treffend bemerkt: Gab es je Diamanten, die leichte Beute waren?
Leo denkt darüber nach. Der Plan, die Aussicht auf viel Geld, vor allem auf einen Schlag, klingt verlockend. Zu Hause wartet Ivan auf ihn, ein alter Mann, senil, drogensüchtig. Ohne persönliche Krankenschwester geht nichts mehr. Das kostet Geld – und die Krankenschwester Nerven. Es macht einer Pflegerin keinen Spaß, wenn der Patient einem die Unterwäsche klaut. Und Seymor ist nicht dumm. Er bringt eine weitere Karte ins Spiel: Greta Watson, die Frau eines Mannes, der bei einem Geschäft mit Leo sein Leben verlor. Die Kehrseite der Karte heißt: Schlechtes Gewissen. Es wirkt. Leo macht mit.
Doch nicht einfach so. Leo trifft Vorkehrungen. Für alle Fälle.
Da ist ein Held, der alles andere als tough ist. Leo spielt nicht Butch und Sundance. Er weiß, wann ein Abflug, kein Abgang, angesagt ist. Ed Brubaker, Autor der Serie Criminal, präsentiert einen vernünftigen Gangster. Stets vorausgesetzt, dass es so etwas wie einen vernünftigen Gangster überhaupt gibt.
Manchmal muss ein Mann eben tun, was ein Mann tun muss.
Oder wenigstens das, was sinnvoll und nötig erscheint. Leo wird in die Ecke gedrängt. Sein gutes Herz steht ihm gehörig im Wege. Nicht nur der alte Ivan ist einer dieser Fallstricke, auch Greta mit ihrer kranken Tochter verursacht bei ihm dieses Magengrimmen, das jemanden antreiben kann, etwas Schlechtes zu tun, um etwas Gutes zu bewirken. Ed Brubaker flechtet diesen Konflikt, den Leo mit sich austragen muss, sehr schön und stimmig in die spannende Geschichte ein. Der Coup, den Leo durchziehen soll, ist weniger das Thema, er ist höchstens das Alibi für die Geschichte, die eine Charakterentwicklung beschreiben soll.
Ist es zuviel gesagt, wenn verraten wird, dass das Geschäft mies läuft? Nein, denn Brubaker inszeniert es als eine Art self-fulfilling prophecy, eine gelebtes Gesetz von Murphy: Wenn du dich darauf vorbereitest, dass es schief geht, geht’s auch schief.
Da ein Tiefschlag nicht ausreicht, hagelt es gleich mehrere auf Leo hernieder, womit Brubaker zeigt, dass er die handwerklichen Grundregeln gut einzusetzen weiß. Stück für Stück wird Leo im Laufe der Geschichte demontiert, bis es nur noch einen Ausweg gibt. Irgendwann läuft auch ein Feigling nicht mehr weg.
Sean Phillips zeichnet Leos Welt und Val Staples gibt ihr die Farbe. Leos Welt ist düster. Die Stadt ist düster. Sie glimmt ein wenig, aber meist strahlt sie nur schmutzig und ist von vielen Schatten durchzogen. Nur einmal hellt die Szenerie auf, als Leo ein klein wenig Glück verspürt – das natürlich auch sogleich wieder von Brubakers Erzählung torpediert wird. Keine Gnade mit den Charakteren.
Phillips zeichnet hier knallhart, beinahe dokumentarisch, hält die Figuren auf Abstand zum Leser und doch sieht man ihre Zerbrechlichkeit, was nicht nur am Zeichenstil von Phillips liegt.
Ein Krimi, von dem man denkt, man wüsste, was auf einen zukommt – falsch gedacht. Schon nach wenigen Seiten hat Brubaker die Nase vorn und bleibt stets um eine Nasenlänge voraus. Der Retro-Stil im Sinne der 70er Jahre Krimis ist inzwischen wieder hochmodern, eckig, kantig, hart. Cool! 🙂
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