Die kleine Händlermaus zieht ihren Handkarren einsam durch den tiefen Wald. Sie müht sich über Stock und Stein, unverzagt, aber angestrengt. Unter einem Baum legt sie eine Rast ein, ruht sich aus – bis ein dunkler Schatten über sie fällt.
Mouse Guard – Herbst 1152 entwirft eine kleine, eine etwas andere Welt. Die Kleinen in dieser Welt sind beständig bedroht von den Großen. Aber die Mäuse haben einen Vorteil. Sie können denken, organisieren, sich verteidigen und verstecken. David Peterson entwirft eine mittelalterliche Geschichte, die zunächst einen recht einfachen Eindruck macht, ihre Komplexität jedoch nach und nach enthüllt.
Der Leser taucht in diese Welt an der Seite der Mauswächter Lieam, Kenzie und Saxon ein. Bewehrt mit Umhang, Schwert und Kampfstab begleiten wir sie bei der Auflösung eines Verbrechens. Auf den ersten, flüchtigen Blick ist es eine putzige Spurensuche mit kleinen süß anzuschauenden Mäusen. Auf den zweiten, besseren Blick handelt es sich um eine ernste Geschichte, die ihre kleinen Helden ebenfalls sehr ernst nimmt.
Der Auftakt, Im Bauch der Bestie, erinnert an alte Filme eines Ray Harryhausen, wenn riesige Monster sich winzigen Gegnern zum Kampf stellen. Der spätere Kampf gegen die Krabben mag diesen Eindruck noch verstärken – oder den Fan von fantastischen Geschichten auch an eine Episode aus der Dunklen Turm-Saga von Stephen King erinnern.
Es sollte spätestens nach der Lektüre dieser beiden Szenen deutlich sein, dass hier gar nichts putzig ist. Diese Begegnungen, bei denen man fast einen dramatischen Soundtrack vermisst, wirken gespenstisch echt. So spielt sich der Kampf in einer seltsamen Lautlosigkeit ab. David Petersen verzichtet sogar auf jegliche Geräusche oder Worte in geschriebener Form. Die Großaufnahme eines finster verzogenen Mausgesichts und die anschließende Auseinandersetzung zeigen exzellent, wozu diese Mouse Guards in der Lage sind.
Langsam wächst die Vorstellungskraft, wie sich der von den Mäusen nur erwähnte Krieg gegen die Wiesel abgespielt haben muss. Verbissen, brutal, kompromisslos.
Und in der Tat wachsen sich die Ereignisse um den Verrat um die Mausniederlassung Lockhaven zu einem handfesten dramatischen Abenteuer aus.
Eine Armee zieht aus durch den herbstlichen Regen, Krieger greifen an, Bogenschützen verteidigen sich, Maus gegen Maus. David Petersen pflegt einen illustrativen Zeichenstil, cover-artig, wie als Ergänzung zu einem komplexeren Jugendroman. In begleitenden Texten klingt diese Machart beinahe wie eine Art Gegenstück zum Mainstream (den es zweifellos gibt) oder ein Vorwurf.
Aber der Comic ist frei in seiner darstellenden Form, wie unzählige Werke in der Vergangenheit bewiesen haben. Er weist eine noch größere erzählerische Vielfalt als der Roman auf, da ein Comic auf mehr Ebenen funktionieren kann.
Die grafische Darstellung mag an ein Bilderbuch erinnern, auch seine reine Form hebt es schon aus der Masse heraus. Doch gerade diese Andersartigkeit birgt schon Spannung, denn der Leser kann mit keinerlei Erwartungshaltung an dieses Werk herangehen und muss sich überraschen lassen.
Und er wird zweifellos positiv überrascht – sofern er sich auf eine Geschichte mit tierischen Protagonisten einzulassen vermag. Allerdings sollte er sich von den Beispielen einer disneyschen Tierwelt im Stile von Bernard & Bianca freimachen.
Auf 3-5 Bildern pro Seite erzählt David Peterson seine Geschichte. (Manchmal nutzt er die zur Verfügung stehende Fläche auch nur für 2 Bilder.) Er nimmt sich viel Platz. Dadurch kann das Auge auf den Bildern ruhen.
Trotz einer mitunter sehr gelungenen und mitreißenden Action entsteht für den Leser keine Hektik wie bei anderen Veröffentlichungen, bei denen eine videoclip-überfrachtete Optik an der Tagesordnung ist.
Der Farbauftrag ist leicht, eine Mischung aus Aquarell-Effekt und extrem feinen Airbrush. Die Ansicht ist dadurch dergestalt, dass man den Eindruck hat, durch ein Vergrößerungsglas auf diese kleine Welt zu schauen. Tusche, reines Schwarz wird bei Figuren hauptsächlich für Außenlinien benutzt. Für Schatten findet es sich hauptsächlich bei Gegenständen und Hintergründen.
Der Wechsel zwischen heiteren Herbstfarben und der rötlichen Düsternis eines Regens im Wald oder eines finsteren Gewölbes sorgt für noch größeren dramatischen Ausdruck.
Eine wunderschöne (im Sinne des Verlagsgeschäfts auch mutige) Idee, eine feine, abenteuerliche Geschichte, die mitreißt und sich dem comic-gewohnten Leser auf ruhige und besonnene Art erschließt. Mouse Guard hat es verdient in ebensolcher Ruhe gelesen, angeschaut und genossen zu werden. 😀
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