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Comic Blog


Sonntag, 27. Januar 2008

Das Nest – Serge

Filed under: Klassiker — Michael um 19:36

Das Nest - SergeEin Mann lebt unter Maries Dach, ein fremder Mann! In der kleinen Ortschaft Notre-Dame, wo jeder jeden kennt, ist dieser ungewöhnliche Gast das Gesprächsthema. Bei den Damen des Ortes, besonders bei den tugendhaften Damen, erzeugt dieser Fremde allerhand Gift und Galle. Da muss der Pfarrer her!
Der gute Pfarrer kann sich sehr bald schon vom guten Geist des Neuankömmlings überzeugen. Serge, so sein Name, ist ein weit gereister Mann, der einen Hauch von Welt in die Wälder Kanadas bringt – aber auch viel Wärme und Menschlichkeit.

Serge hat viel gesehen von der Welt. Europa, den großen Krieg, das zivilisierte Kanada, aber eine solche Idylle ist ihm noch nie begegnet. In einer solch eingeschworenen Gemeinschaft jedoch hat es ein Neuling schwer. Seine große Stunde naht, als es ein Schwein zu schlachten gibt und der verantwortliche Metzger die Arbeit nicht erledigen kann. Serge, von Beruf her Tierarzt, bietet sich an, die Lücke kurzzeitig zu schließen.
Das Schlachten des Schweins wird seine erste Bewährungsprobe, denn ein derartiges Ereignis lockt das gesamte Dorf an. Und wie es sich herausstellt, ist die Schlachtung eines solchen Kolosses nicht leicht. Spätestens als die Sau mit dem Pfarrer auf dem Rücken durchgeht, wird allen Beteiligten klar, dass die Prozedur alles andere als einfach wird.

Weihnachten naht. Marie und Serge laden zum gemeinsamen Weihnachtsschmaus ein. Nicht nur Liebe geht durch den Magen, sondern auch Nächstenliebe. Serge beweist, dass er von seinem Aufenthalt in Paris sehr viel Wissen um eine gute Küche mitgebracht hat. Sehr bald ist es dann so weit. Das erste Restaurant eröffnet in kleinem Rahmen in Notre-Dame. Serge kocht sich regelrecht in die Herzen der Menschen.

Das Nest von Regis Loisel und Jean-Louis Tripp geht in die zweite Runde. Nachdem die Charaktere vorgestellt wurden und der Alltag im Nest bekannt ist, bringen Loisel und Tripp einen Unruheherd in das kleine Dörfchen Notre-Dame – und dieser Begriff passt gar nicht einmal schlecht als Umschreibung von Serge, dem Neuen.

Marie, die Witwe und Betreiberin des einzigen Ladens im Ort, steht natürlich auch im Mittelpunkt eines gewissen Interesses. Zuerst ist es Mitleid mit der noch recht jungen Frau, die nun allein ihr Leben fristen muss. Im Ort selber sollte es für jedermann einsichtig sein, dass aus dem Dorf selbst kein neuer Gefährte kommen kann. Ausgerechnet ein Mann, der eigentlich auf der Durchreise war, beginnt in Notre-Dame Wurzeln zu schlagen – wegen Marie einerseits, wegen der Menschen im Dorf andererseits.

Sehr liebevoll lernt der Leser diese kleine Welt durch die Augen von Serge kennen. Dabei schadet es nicht, den ersten Teil nicht gelesen zu haben. Durch Serge ist alles neu. Für den Leser, der bereits eingeweiht ist, tun sich viele neue Aspekte auf.
Es ist tiefer Winter. Der Schnee liegt knöcheltief, nächtens fallen weitere Flocken zur Erde. Der Winter lässt die Menschen noch enger zusammenrücken. Neben dem Schnee gibt es noch einen Grund zum Zusammenrücken: Neugier. Da kommt ein Fremder gerade recht. Serge jedoch gibt zwar Anlass zu Spekulationen, aber er gibt (eigentlich) keinen Anlass zum Unmut. – Sieht man einmal von den zornigen Blicken der tugendhaften Drei ab, die nur einem männlichen Wesen Respekt zollen: Dem Pfarrer.

Die Beziehungen in dieser Gemeinschaft sind fein ausgearbeitet. Langsam werden die unsichtbaren Geflechte und Grenzen abgesteckt, wird sichtbar, wer welche Rolle im Dorf spielt. Aber die Beziehungen sind locker. Jeder lehnt sich nicht zu weit aus dem Fenster, lässt Freiraum, kurzum ein einigendes Element fehlt. Maries Laden im Zentrum ist ein Treffpunkt, den alle brauchen, doch ein Kern lässt sich nicht ausmachen. Mit Serge ändert sich das.

Wirklich, Serge, das war … Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass man so gut essen kann.
Der Genuss hält Einzug in Notre-Dame und mit ihm werden gepflegte kleine Einladungen ausgesprochen, bei denen der Reihe nach alle Einwohner zum Essen zu Marie und ihrem Gast kommen, der sich zunehmend heimischer fühlt. Es ist den beiden Autoren und Zeichnern in Personalunion zu verdanken, dass sich dieses zelebrierte Kennenlernen beinahe greifen lässt. In jeden Fall greift die Stimmung auf den Leser über. Es ist warm, beschaulich und jene, die schon seit einer halben Ewigkeit in Notre-Dame zu leben scheinen, kommen sich noch einmal näher.

Die Bilder von Loisel und Tripp geben diese Stimmungen perfekt wieder, erinnern ein wenig an naive Kunst, Alltagsstillleben, Szenen des Miteinanders in einer anderen Zeit, weitab von stetig wachsender Zivilisation. Wie gut die beiden aufeinander abgestimmt sind, zeigt sich gleich im Vorfeld der Geschichte. Die Arbeitsphasen der beiden werden einander gegenüber gestellt, zuerst Loisel, dann Tripp, der die Feinarbeit übernimmt. Für die Kolorierung ist Francois Lapierre zuständig. So ergeben sich spannende Mixturen aus Bleistiftvorzeichnung und schönen Farben, in denen die Lichter diesmal eine große Rolle spielen.
Lichter auf den Gesichtern, in der Dunkelheit, zu Weihnachten Wärme ausstrahlend. So entsteht eine perfekte Inszenierung dieser kleinen Welt.

Am Ende, nach einer trefflichen Episode über menschliches Zueinanderfinden, steht der Ausblick auf die weitere Entwicklung. Wenn die Katzen aus dem Haus sind, tanzt die Maus auf dem Tisch. Was mag sein, wenn die Katzen zurückkehren? So liegt über einer heiteren Geschichte auch ein Spannungselement. Erzählungen der Einwohner deuten an, was alles in Notre-Dame passieren kann. Wunderbar gezeichnet und geschrieben, so erzählen sich Loisel und Tripp direkt in das Herz des Lesers. Toll. 😀

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