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Comic Blog


Montag, 21. Januar 2008

100 Bullets – Die zweite Chance

Filed under: Thriller — Michael um 22:24

100 Bullets - Die zweite ChanceWer ist Mr. Graves? Ist er ein Wohltäter, der es nicht ansehen mag, wie Schuldige davonkommen? Gönnt er deshalb einigen besonderen Menschen diese Form der Rache?
Der Grundgedanke ist faszinierend. Brian Azzarello macht nicht nur seinen jeweiligen Hauptfiguren, sondern insgeheim auch dem Leser ein unmoralisches Angebot. Ein Unrecht ist geschehen, manchmal sogar eines, von dem der Betroffene zum ersten Mal erfährt. Eine Gelegenheit ergibt sich. Ein Koffer, eine unregistrierte Waffe, 100 Schuss Munition und unwiderlegbare Beweise. Sollte derjenige, dem dieser Koffer übergeben wird, sich dazu entschließen, seinen Inhalt in Racheabsicht zu benutzen, wird es keine Ermittlungen geben. Wie wird sich derjenige entscheiden, dem diese Gelegenheit zuteil wird?

Die Motive der einzelnen Personen, die einen Koffer überreicht bekommen, sind sehr unterschiedlich. Nur unter dem Strich steht immer ein Verlust. Der Verlust von Zeit, Verrat an der Freundschaft, Mord, Vergewaltigung, Missbrauch. Nicht jeder zieht sofort einen brutalen Schlussstrich. Vielmehr ergeben sich manche erst einmal ihrer Trauer. Es ist die Trauer über den Verlust in der Vergangenheit, aber auch die Trauer über den Verlust der letzten Unschuld, die noch verblieben ist.
Für Graves sind sie Marionetten. Irgendwie ahnt er den Ausgang der Handlung, wenn er ihn nicht sowieso bereits im Vorfeld weiß – so wie alles andere, von dem er bei der Kofferübergabe berichtet.

Brian Azzarello schildert besonders diese Übergabe sehr gruselig. Sehr gelungen ist hierbei eine Szene in einem Schnellimbiss zu nennen. Peinlichst genau und sehr süffisant reibt er einer Frau das Schicksal ihrer Tochter unter die Nase. Die Mutter hat sich bereits das Versagen ihres Mutterjobs vorgehalten, trauerte im verlassenen Zimmer ihrer Tochter, die im Alter von 12 Jahren aus ihrem Leben und aus der Familie verschwand. Das Ende der Tochter war schrecklich. Nun, vier Jahre nach ihrem Verschwinden, ist die Lösung zum Greifen nah und leider auch furchtbar.
Wer ist Agent Graves? Diese Frage stellen sich auch zwei vollkommen verschiedene Menschen, die beide mit dem Koffer konfrontiert wurden. Zu einer Antwort finden auch sie nicht.

Das Ambiente, das Flair, die Atmosphäre erinnert an X-Files (dt. Akte X). Hinter der Handlung läuft ein roter Faden entlang. Agent Graves ist hier der Kettenraucher, der geheimnisvolle Fremde, der über unglaubliche Macht zu verfügen scheint. Ihm zur Seite, noch geheimnisvoller, da seltener vertreten, Mr. Shepherd. Herr Gräber und Herr Hirte gehörten einmal zu einer gemeinsamen Gruppe, den Minute Men. Etwas ist geschehen, und die Gruppe wurde zerschlagen. Aber es gab Überlebende. Mr. Graves sorgt nach seinen Maßstäben dafür, dass sich neue Minute Men formieren. Dafür rekrutiert er auch solche Menschen, deren Gedächtnis kurzfristig umgeschrieben wurde. Minute Men sind ausgebildete Killer. So stellt sich in einer Episode der Eindruck einer Handlung von Robert Ludlum ein. Nur ist es hier nicht Jason Bourne, der sich erinnert. Auch kommt die Erinnerung mit dem Schlag einer geistigen Explosion daher. Aus Cole Burns wird im Handumdrehen ein Mörder, aus dem Eisverkäufer wird eine Kampfmaschine.

Ähnlich wie diese Explosion erfolgen stets die Schlussakkorde der Handlungen, die Brian Azzarello entwirft. Der Beginn ist schleichend, die Auflösung zumeist eine Überraschung und knallhart in jeder Hinsicht.
Azzarello lässt Spielraum für die Phantasie des Zuschauers, für das geistige Auge. Ein Schuss ist ein Schuss, wenn aber ein Stakkato von Schüssen mit seiner Lautmalerei das halbe Bild ausfüllt, lässt sich der Hass, der Zorn und die Verzweiflung hinter dieser Tat mehr als nur erahnen. Ähnlich ist der Kampf von Cole gestaltet, ähnlich sind auch die meisten Gewaltszenen aufgebaut. Eduardo Risso arbeitet hier sehr schön Hand in Hand mit Azzarello, versperrt mit Schatten die Sicht oder entwirft das Grauen außerhalb der Bilder. Allenfalls Blutspritzer lassen das Ausmaß der Brutalität erahnen. (Später findet sich zuweilen ein weit entfernter Blick auf das Endergebnis, doch so weit entfernt, dass man mit zusammengekniffenen Augen einen besseren Ausblick zu erhaschen versucht – in einem Film würde man sich das verkneifen, denn die Geräuschkulisse müsste bereits furchtbar genug gewesen sein.)

Eduardo Risso ist für seinen sehr einfach aussehenden Zeichenstil wohl schon oft kritisiert worden. Auch Howard Chaykin macht sich in seinem Vorwort nicht ganz davon frei.
Ich persönlich glaube, dass Risso seine stärksten Ergebnisse erzielt, wenn er völlig ohne Farbe auskommen muss und nur in Schwarzweiß arbeitet. Seine Figuren sind keine Karikaturen, wie es zunächst den Anschein haben mag. Sie sind reduzierte Abbilder. Einzig seine Frauen sind manchmal etwas eindimensional. Stilistisch hält er sich hinter der Geschichte zurück, und es passt. Er zeigt das, was gezeigt werden muss. Ein Gesicht liegt im Schatten. Nur die Augen und das Grinsen sind zu sehen. Dergleichen sagt genug aus.

Ein Thriller, der es in sich hat. Eine Mischung aus Akte X, Tarantino-Visionen und der guten alten Zeit, als Gangster und Detektive aus dem Dunkeln zuschlugen, mit einem gemeinen Grinsen im Gesicht. Langfristige Geheimnisse mischen sich mit kurzen Episoden, Gewaltakte, Rache und allesamt verlorene Seelen tanzen durch eine kraftvolle Erzählung. Für Thriller- und Krimi-Freunde findet sich hier ein tolles Konzept mit spannender Handlung. 😀

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