Der Mann ist tot, ganz eindeutig. Der Körper liegt festgefroren auf dem Boden. Seine Haltung verrät nichts über die Todesursache. Allerdings ist die Möglichkeit eines normalen Todes unwahrscheinlich, denn der Tote hat kein Gesicht mehr.
US-Marshal Carrie Stetko übernimmt die Ermittlungen des Falls. Ein Mord ist in der Antarktis etwas Besonderes. In einer solch lebensfeindlichen Umgebung haben die Menschen genug mit dem eigenen Überleben zu tun, als sich umzubringen. Die Zeit zur Aufklärung des Mordes ist darüber hinaus sehr ungünstig, denn der Winter steht bevor und viele Bewohner der Forschungsstationen werden für die Dauer dieser Periode nach Hause zurückkehren.
Nicht nur die unkenntlich gemachte Leiche ist ungewöhnlich. Gleich bei dem Toten finden sich merkwürdige Bohrlöcher im Eis. Weder Carrie noch Furry, der Stationsarzt, können sich einen Reim darauf machen. Die Polizistin, die sowieso dem Druck ihrer Vorgesetzten ausgesetzt ist, macht sich an ihre ohnehin sehr schwierige Ermittlungsarbeit.
Jeder Weg ist vom Wetter abhängig. Das Flugzeug ist das wichtigste Fortbewegungsmittel in dieser Region.
Die für ihre nähere Umgebung unbequeme junge Frau macht sich unbeeindruckt von den widrigen Umständen an ihre Arbeit. Trotz der lebensfeindlichen Umgebung ist eher Routine. Als sie die Tür zu einem Wohncontainer öffnet und einem Mörder gegenübersteht, der die Tatwaffe, einen Eispickel, noch in der Hand hält, ist ihr Leben plötzlich in größter Gefahr.
Whiteout entführt den Leser in lebensfeindlichste Landschaft dieser Erde: der Antarktis.
Die scheinbare Unendlichkeit eisiger Flächen, die Andersartigkeit einer Schneelandschaft bietet eine gute Grundlage für einen Thriller. Denn zusätzlich zum Duell der unterschiedlichen Kontrahenten kommt als unberechenbarer Dritter die Natur ins Spiel. Wie gut dieses Konzept funktioniert, konnten Leser wie auch Zuschauer in Antarktika, Fargo, Das Ding aus einer anderen Welt oder auch in den Geschichten Jack Londons bisher sehen. Die Unwirklich- wie auch Unwirtlichkeit des Kontinents mag einem Außenstehenden wie ein Blick auf einen fremden Planeten vorkommen. Minusgrade von angenehmen 5 bis unangenehmen 89 können dem Menschen den Garaus machen. Ein Fehlgriff im eisigen Wind, ein Weg in die falsche Richtung und man begegnet dem Tod sehr schnell.
Greg Rucka nutzt diese Grundbedingungen und schafft einen Thriller, der seinen Hauptdarstellern nichts schenkt und mit den Begebenheiten dieses eisigen Kontinents virtuos spielt. Der Titel ist nicht willkürlich gewählt, sondern benennt ein Phänomen, dem ein Mensch in Eis- und Polarregionen begegnen kann. Eisflächen und Horizont verschmelzen zu einer einzigen grauweißen Fläche, in der es keinerlei Orientierungspunkte mehr. Es bleibt ein riesiger, scheinbar leerer Raum. Wenn in dieser Situation ein Schneesturm die Sicht zusätzlich verschlechtert, so dass die eigene Hand kaum mehr zu erkennen ist.
Ein beeindruckendes Beispiel für dieses Whiteout wird der Hauptfigur Carrie Stetko beinahe zum Verhängnis. Es ist Zeichner Steve Lieber zu verdanken, dass diese Szene auch für den Leser ein haarsträubendes Erlebnis wird. Nach eigener Aussage hat Lieber mit verschiedenen Techniken für die Umsetzung des Thrillers experimentiert. Lässt man diese Aussage einmal außen vor, ist es doch ersichtlich, dass die Darstellung einer unendlichen Schneelandschaft einerseits im Kontrast zu Schuhschachtel-Innenräumen andererseits für einen Zeichner eine Herausforderung ist.
Lieber schraffiert, tuscht, radiert, arbeitet mit Rasterfolien und Kohle, Sandpapier, Deckweiß und vielem mehr. Endlich konnte er sich von eigens gestellten Konventionen lösen und ein vollkommen eigenes Werk schaffen. Bisher war er nie so recht mit seiner Arbeit zufrieden gewesen.
Das Auge des Lesers kann sich so nicht auf einen Moment einstellen, sondern begegnet immer neuen Elementen. Das mag auf den ersten Blick nicht ersichtlich sein, aber auf den zweiten Blick wird deutlich, wie Lieber verschiedene Techniken für unterschiedliche Situationen nutzt. So sind die Erinnerungen Carries ganz anders aufbereitet als die Gegenwart. Innen ist anders als außen. Und obwohl die Weite der Eisfelder einen unendlichen Eindruck hinterlässt, ist jede Szene Ausdruck eines Kammerspiels. Das Leben dort unten spielt sich in aller Enge ab.
Der Thriller baut sich langsam auf. Rucka baut Täuschungen ein und schickt den Leser in die Irre. Er belässt es nicht bei einer Hauptfigur, sondern stellt Carrie mit der britischen Spionin Sharpe einen völlig gegensätzlichen Charakter zur Seite. Sharpe ist beherrscht, kühl, während Carrie ein Heißsporn ist. Die kleinen Szenen, in denen sich die unterschiedlichen Frauen gegenüberstehen und Carrie ihre Kollegin Widerwillen doch nicht mit Blicken niederringen kann, bringen die Spitze Humor in die Geschichte ein.
Ein ungewöhnlicher Thriller, hoch spannend durch die Platzierung am Südpol, da die Natur zum dritten Mitspieler in der Hatz nach dem Mörder wird. Mit der widerborstigen Carrie findet der Leser einen Charakter, deren Kampf gegen den Killer und die Situation einfach mitreißt. Freunde von ungewöhnlichen Kriminalgeschichten sollten sich mit Whiteout eine ruhige Ecke suchen und ein Nicht-Stören-Schild aufhängen. Thriller mit Kult-Potential. 😀
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